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Versicherungen, die wir abgeschlossen haben, niemals. Aber dennoch gehen wir prognostisch von möglichen Bedrohungen unseres Lebens oder unseres Eigentums aus. Wir schließen Wetten auf diese Zukunft. Wenn ein Schaden eintritt, haben wir die Wette gewonnen. Dann sind wir das sprichwörtliche Glück im Unglück. Tritt der Schaden nicht ein, hat die Versicherung die Wette gewonnen. Und wir sind dennoch froh, immerhin ging dieser Kelch an uns vorüber.

      Bei den Modellen der Berechnung dieser möglichen Schäden tätigen Versicherungen allerdings keine Vorhersagen. Im Gegenteil. Versicherungen wenden für ihre Modelle Daten aus der Vergangenheit an. Dabei wird errechnet, wie oft ein gewisser Schaden bisher aufgetreten ist. Es wird statistisch erhoben, wie hoch das Risiko ist, dass solche Schäden auftreten. Mit anderen Worten: Versicherungen, die zukünftige Risiken abdecken, spielen mit Zukunftserwartungen. Die Modelle, die dafür angewandt werden, sind vergangenheitsbezogen.

      Haben Sie heute schon Zeitung gelesen? Gab es was zu aktuellen Wahlen? Gibt es neue Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes (BIP)? Alles Zukunftserwartungen. Wie werden sich Handelsströme entwickeln? Erwartete Absätze von Elektroautos des VW-Konzerns? Wieder der Versuch, die Zukunft vorwegzunehmen. Alles Prognosen, Kalkulationen des Wahrscheinlichen.

      Nutzen Sie öfter eine Karten-App auf Ihrem Smartphone: Sie geben ein Ziel ein, das Sie in einer gewissen Zeit erreichen wollen. Die App gibt ihnen Hinweise darauf, wie lange es dauern wird und welche Route die im Moment beste für Sie ist. Dabei unterscheidet sich die Art der Datenerhebung bei diversen Apps am Handy im Vergleich zu klassischen Navigationssystemen. Die Apps nutzen die Smartphones der Menschen, um zu erkennen, in welchen Straßen gerade wieviel Verkehr ist. Jedes Handy ist ein Datenpunkt, wohingegen die meisten Navigationssysteme auf die offiziellen Staumeldungen angewiesen sind. Diese sind zeitverzögert und ungenauer als die Datenpunkte, die von den Apps in Echtzeit genutzt werden. Was diese Systeme eint: Sie entwickeln Prognosen auf Basis von aktuellen und vergangenen Daten. So wird eine Wahrscheinlichkeit erstellt. Jeder Nutzer dieser Technologien weiß das. Wenn man sich auf den Weg macht, ändern sich die Daten. Die Verkehrslage wandelt sich. Nicht zuletzt wegen der Prognosen. Je mehr Menschen dieselben Datenlagen zur Grundlage ihrer Zukunftserwartung nutzen, desto mehr bewegen sie sich in eine Richtung. Je mehr Menschen erkennen, dass eine spezielle Straße frei ist, werden sie versuchen diese zu nutzen. Die Prognose hat also die Zukunft verändert – und: Die Prognose hat sich als falsch herausgestellt. In dem Moment, wo ich als Autofahrer in diese Straße einbiege, ist dort Stau. Weil andere genau dieselbe Straße wählten. Damit erkennen wir ein spannendes Phänomen: Je mehr wir Prognosen in unseren Alltag einbauen, desto sicherer können wir sein, dass die Prognosen falsch sein werden oder zumindest anders eintreten werden.

      Je mehr Menschen der Prognose einer freien Straße folgen, desto voller wird die Straße sein. Somit ist der Inhalt der Prognose falsch. Ähnliches passiert beim Wetter. Wenn wir auch das Wetter nicht dadurch verändern, dass wir einen Regenschirm mitnehmen. Je mehr wir uns mit der Prognose des Wetters beschäftigen, desto mehr Prognoseanbieter kommen auf den Markt. Je differenzierter der Markt, desto unterschiedlicher die Berechnungsmodelle. Es entsteht ein Kampf um das richtige Wetter. Wir alle kennen das aus unserem Alltag:

      »Welche Wetter-App benutzt du?«

       »Ah, das von … das kannst du vergessen. Ich habe hier ein viel Präziseres. Das kommt aus der Formel 1.«

      »Aus der Formel 1? Meines kommt aus der Landwirtschaft. Die müssen das ganz genau wissen.«

      Am Ende stehen wir da und sind unsicher, welche Meinung über eine Wetter-App nun die richtigere ist. Welche Prognose ist die validere? Wir können sicher sein, dass wir uns nicht sicher sein können. Wir sind prognostisch verseucht, permanent von Prognosen umgeben und können die Zukunft gerade deswegen kaum noch deuten. Dabei ist es genau das, was uns alle Prognosetools so innig versprechen: Zukunft zu deuten, den besseren Weg für uns zu finden, die richtige Versicherung abzuschließen, das Wahlergebnis vorherzusagen – vielleicht den Partner fürs Leben zu entdecken. Alle diese Prognosen kämpfen um unsere Aufmerksamkeit für Zukunft. Ich kann verstehen, dass sich viele Menschen zurücksehnen in eine Zeit, in der das alles noch keine Rolle gespielt hat.

      Bis vor Kurzem gab es keine Wetter-Apps und auch keine Maps auf dem Smartphone, die die beste Route von A nach B prognostizierten. Vor dem 19. Jahrhundert gab es keine Wachstumsraten, Wahlumfragen oder Prognosen für die Entwicklung des BIP. Bis zum 18. Jahrhundert war man im Großen und Ganzen davon ausgegangen, dass die Welt sich nach einer göttlichen Vorhersehung entwickle. Dass man sich als Individuum Gedanken über die Zukunft gemacht hat, war die Ausnahme. Dies war wenigen Vordenkern vorbehalten. Heute ist die Zukunft zu unserem Alltag geworden. Wir alle brauchen einen kompetenten Umgang mit der Zukunft, sonst landen wir im Dickicht von Prognosen und sind überfordert mit deren Interpretation.

      Im Zukunftsinstitut ist es unsere Vision, die Zukunftskompetenz der Menschen in der Wirtschaft und in der Gesellschaft stärker zu machen. Wir wollen Menschen begeistern für ihre Zukunft und daher forschen wir für ihre Entwicklung. Dabei unterscheiden wir zwischen zwei Zugängen: Zukunft als Wahrscheinlichkeit und Zukunft als Möglichkeit. Mit Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten ist ein statistisches Vorgehen. Man versucht zu verstehen, mit welcher prozentualen Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ereignis eintreten könnte. Hier handelt es sich um Prognosen und damit um die Art von Zukunft, die uns allen im Alltag vermehrt unterkommt. Nimmt man sich Möglichkeiten vor, sucht man Potenziale und erzeugt Bilder (Ausblicke) und Szenarien. Der größte Unterschied zwischen den beiden Zugängen: Bei Wahrscheinlichkeit nutzt und interpretiert man Daten. Das Ergebnis sind Prognosen. Diese helfen uns zu verstehen, welche Entscheidungen im Moment anstehen. Wie beim Wetter: Nehme ich den Regenschirm oder die Sonnencreme. Möglichkeiten gehen von Potenzialen aus und helfen uns alternative Vorstellungen zu entwickeln. Sie regen unsere Fantasie an und sind gewissermaßen fiktiv, nicht statistisch. Das Ergebnis ist eine umfangreichere Vorstellung von Zukunft. Neue Richtungen können sich daraus ergeben.

      Die Unterscheidung zwischen Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit ist nicht trivial. Fangen wir mit den Wahrscheinlichkeiten an: Vorhin haben Sie von alltäglichen Prognosen gelesen: Von der Wetter-App bis hin zu Wahlprognosen. Diese Prognosen handeln von Wahrscheinlichkeiten und werden mit statistischen Werten ausgedrückt. Es gibt dann zum Beispiel eine 60 %ige Wahrscheinlichkeit auf Regen. Oder: Ihr Routenplaner sagt Ihnen, dass die eine Strecke um 5 Minuten schneller sein wird als eine andere. Beides sind errechnete Wahrscheinlichkeiten. Beide sagen nichts über die Zukunft aus. Wie meine ich das? Nehmen wir nur das Wetter. Wenn es eine 60 %ige Chance auf Regen gibt, was tun Sie dann? Nehmen Sie einen Schirm mit oder nicht? Die Prognose hilft Ihnen in dem Fall nicht, diese Entscheidung zu treffen. Das liegt ganz bei Ihnen. Vielleicht schauen Sie dann in den Himmel und denken sich »Na, lieber nehme ich mal einen Schirm mit.« Sollte es den ganzen Tag nicht regnen, hat Ihnen die Prognose nicht geholfen. Aber war sie falsch? Nein. Denn 60 % sind ja immerhin nicht 100 %. Die Prognose war nicht falsch: Sie setzt ein Thema auf den Plan. Nämlich, dass Sie überhaupt darüber nachdenken, einen Schirm mitzunehmen oder eben nicht. Prognosen können nicht die Zukunft vorhersagen: sie sensibilisieren dafür, welche Themen wir berücksichtigen müssen. Ähnliches gilt für die Route. Wenn auf einer Fahrtstrecke von einer Stunde ein Unterschied von 5 Minuten angezeigt wird, liegt es letztlich wieder bei Ihnen, sich zu entscheiden. Die Prognose sagt nur aus, dass es – momentan – fast keinen Unterschied macht. Wählen Sie dann eine Route aus und landen in einem Stau, hat Ihnen die Prognose wieder nicht geholfen. Aber: Zum Zeitpunkt der Erstellung war sie nicht falsch. Ein Unfall hat diesen Stau verursacht. Dieser war um diese Uhrzeit auf dieser Strecke äußerst unwahrscheinlich, daher konnte das Prognosetool nicht helfen.

      Ähnliches passiert bei Versicherungen. Wenn wir eine Versicherung abschließen, wird das Risiko auf Basis von statistischen Rechenmodellen eingeschätzt. Die Prognosen können nur mit Daten agieren, die in der Vergangenheit beziehungsweise – mittels

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