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      Scarlett Müller

      TAHANI KOSMOPOLITANI

      ENGELSDORFER VERLAG

      LEIPZIG

      2017

      Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

      Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

      Alle Rechte beim Autor

      Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

       www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

      Bitte

      Menschen, liebe Menschen,

      lasst die Erde stehn.

      Schaut, sie ist so wunder-,

      wunder-, wunderschön.

      Viktoria Ruika-Franz

Syrien

      Das Familienessen

      Tahani sitzt im Hof, sie ist ganz aufgeregt. Heute Abend wird ein Familienessen stattfinden. Es soll eine große Zusammenkunft werden. Nicht nur die Großeltern, sondern auch die Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins werden kommen. Das geschieht sonst nur an Feiertagen.

      Tahani wäre so gern mit ihrer Mutter auf den Marktplatz gegangen, um für das Abendessen einzukaufen. Sie liebt das bunte Treiben auf dem Bazar, das Stimmengewirr der vielen Menschen und vor allem die Gewürzstände. Dort duftet es nach Kardamom und Koriander, Kurkuma, grünem und weißem Pfeffer, Rosmarin, Thymian und Rosenpaprika. Die Gewürze stehen in riesigen Schüsseln und Säcken nebeneinander und leuchten in sämtlichen Gelb-, Rot-, und Brauntönen.

      Einst hatte Tahani ihre Nase dicht an einen aufgehäuften Berg von gemahlenem Muskat gehalten und seinen Duft tief eingesogen. Daraufhin musste sie achtmal hintereinander niesen. Ihre Mutter schimpfte, weil Tahani so nahe an die Waren herangegangen war, doch die Marktfrau winkte Tahani zu sich heran und sagte:

      „Wer solch eine feine Nase hat wie du, bekommt von mir einen Talisman geschenkt. In deinem Fall ist es eine Muskatnuss.“ Dann zwinkerte die Frau Tahani zu und überreichte ihr lächelnd die Nuss. Seitdem steckt sie in einem kleinen Lederetui, das Tahani um ihren Hals trägt.

      Doch seit einiger Zeit darf Tahani nicht mehr zum Einkaufen mitkommen. Es ist zu gefährlich geworden, denn der Marktplatz ihrer Stadt wurde bombardiert. Bei diesem Luftangriff verloren über einhundert Menschen ihr Leben. Unter den Opfern befanden sich auch zwei Kinder, die Tahani gut gekannt hatte. Naima und Ahmad waren Tahanis Klassenkameraden gewesen. Der gewaltsame Tod ihrer beiden Mitschüler hatte sie tief erschüttert.

      Weil Tahani seitdem auch nicht mehr auf die Straße darf, sitzt sie jetzt oft allein im Hof und langweilt sich. Ihre Freunde sieht sie nur noch selten. Niemand geht mehr regelmäßig zur Schule. Es herrscht Krieg in Syrien. Manchmal hat Tahani große Angst davor, dass eine mit Sprengstoff und Schrott beladene Fassbombe auch ihr Haus treffen könnte. Wenn ihre Eltern nicht daheim sind und draußen Schüsse fallen, fürchtet Tahani, sie kämen nicht mehr nachhause zurück. Dann knetet Tahani die Muskatnuss zwischen ihren Fingern und hofft inständig, dass den Eltern nichts passiert ist.

      Aber heute Abend wird die ganze Familie beisammen sein.

      Tahanis Mutter erscheint am Fenster und ruft nach ihr. Sie soll hinaufkommen und der Mutter beim Kochen helfen, schließlich haben sie bald viele Gäste zu bewirten.

      Beide stehen noch am Herd, als erste Schritte im Treppenhaus laut werden.

      „Sie kommen!“, ruft Tahani und rennt zur Tür.

      Es sind die Großeltern. Tahani umarmt sie stürmisch. Kurz darauf erscheinen Tante Banu und Onkel Mahmoud mit ihren Töchtern Samira und Gulalai und ihrem Sohn Malik. Er ist Tahanis Lieblingscousin. Bald darauf treffen auch Tante Serpil und Onkel Nihat mit Farid und Yasin ein. Nachdem sich alle begrüßt und Platz genommen haben, bemerkt Tahani, dass irgendetwas nicht stimmt. Es war zwar immer eng, wenn die gesamte Familie zusammenkam, doch heute wirkt der Raum beinahe überfüllt. Plötzlich fallen Tahani die vollgepackten Rucksäcke und Taschen auf, die an der Zimmerwand stehen. Es sieht so aus, als würden alle verreisen wollen.

      Nun spricht der Vater das Tischgebet. Danach langen alle zu. Wie immer schmeckt es köstlich. Aber Tahani spürt eine eigenartige Stimmung, die in der Luft liegt. Das Essen verläuft viel schweigsamer als sonst und wenn die Erwachsenen miteinander reden, wirken ihre Stimmen gedämpft. Nach einiger Zeit ergreift Tahanis Vater das Wort:

      „Liebe Kinder, wir haben euch etwas mitzuteilen. Unsere Familie hat sich heute versammelt, um gemeinsam in eine neue Zukunft aufzubrechen. In unserer Stadt und unserem Land herrschen Krieg und Zerstörung und bedrohen uns an Leib und Leben.

      Deshalb werden wir Syrien verlassen. Noch vor Sonnenaufgang begeben wir uns an den Stadtrand. Dort steht ein Lastwagen bereit, mit dem man uns in den Libanon bringen wird. Von dort fahren wir weiter nach Norden, in die Hafenstadt Tripoli, wo wir eine Schiffspassage in die Türkei gebucht haben. Wir machen uns auf den Weg nach Europa.“

      Tahani vergaß zu kauen. Was hat der Vater gesagt? Sie werden weggehen, nach Europa, noch heute Nacht?! Sie soll ihre Freunde nicht wiedersehen? Sie muss ihr zu Hause verlassen, ihr schönes Zimmer, alle ihre Spielsachen und Bücher aufgeben?

      Tahani spürt, wie ihr langsam Tränen über die Wangen rinnen. Es sind heiße Tränen und sie schmecken salzig. Die Mutter kommt zu ihr, nimmt Tahani an die Hand und sagt:

      „Lass uns in dein Zimmer gehen. Ich habe in deinem Rucksack etwas Platz gelassen, damit du ein Spielzeug mitnehmen kannst.“ Tahani kann vor lauter Tränen gar nichts mehr sehen und muss von ihrer Mutter ins Kinderzimmer geführt werden.

      „Nur eine einzige Sache?“, schluchzt Tahani. Die Mutter nickt, sie streicht ihr sanft über das Haar und verlässt den Raum.

      Tahanis Blick ist verschwommen. Sie betrachtet ihr Spielzeug wie durch einen Schleier. Was soll sie nur mitnehmen? Die Puppe? Den Teddy? Malbuch und Stifte? Sie weiß es nicht, legt sich auf den Boden und schließt die Augen.

      Nebenan reden jetzt alle durcheinander, aber draußen wird es stiller. Nun hört Tahani ein Zwitschern. Der kleine Vogel, welcher jeden Abend zur Palme im Hof geflogen kommt, singt sein Lied. Auch ihn wird Tahani vermissen und plötzlich wird ihr klar, was sie mitnehmen will. Sie springt auf und holt ihre Flöte. „Wenn ich Heimweh bekomme“, denkt Tahani, „kann ich auf der Flöte spielen und mich trösten.“ Sie geht zum Fenster und entlockt ihrer Flöte ein paar Töne. Dann lauscht sie. Der Vogel zwitschert. Daraufhin spielt Tahani die Flöte wieder kurz an und wartet darauf, dass der Vogel ihr antwortet. In den vielen Tagen, die Tahani ohne ihre Freunde auf dem Hof verbringen musste, hatte sie begonnen, sich auf diese Weise mit dem Vogel zu unterhalten.

      Nach einer Weile werden auch die anderen Kinder in Tahanis Zimmer gebracht. Sie sollen sich hinlegen und ein wenig schlafen, bevor die Familie in ein paar Stunden aufbrechen wird. Tahani steckt schnell die Flöte in ihren Rucksack und zieht sich die Decke über den Kopf.

Die Flucht

      Tripoli

      Tahani erwachte. Ihre Augen hielt sie aber noch geschlossen. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Tahanis Oberkörper war zur Seite gekippt. Ihr Kopf lehnte an der Schulter ihrer Mutter. Sie saß auf einer harten Pritsche und ihre Beine baumelten nach unten. Es ruckelte und schuckelte so sehr, dass ihr ganzer Körper hin und her gerüttelt wurde. Jetzt wusste Tahani, wo sie sich befand. Sie saß im Lastauto. Langsam kehrten die Erinnerungen an die vergangenen Stunden zu ihr zurück.

      Als die Kinder von der Mutter geweckt worden waren, war es finstere Nacht gewesen. Sie hatten ihre Jacken anziehen sollen und jedes Kind musste seinen Rucksack schultern.

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