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Erfahrungen in einem sozialen Netzwerk. Edith Zeile
Читать онлайн.Название Erfahrungen in einem sozialen Netzwerk
Год выпуска 0
isbn 9783957446527
Автор произведения Edith Zeile
Жанр Программы
Издательство Автор
Ich staunte nun nicht mehr, ich war voller ehrlicher Bewunderung, dass jemand, ohne zu murren, sein Schicksal voll und ganz akzeptierte und jedem Gesunden, der über schlechte Laune oder die Grausamkeit des Lebens klagt, einen Spiegel vorhalten könnte.
Wir schreiben uns ellenlange Mails, und ich bin voller Dankbarkeit gegenüber Seniorbook, das den Lebensraum eines solchen wunderbaren Menschen erweitert und mir eine liebe Freundin geschenkt hat.
a) KULTUR UND UNTERHALTUNG
Menschentypen
Psychologen oder Gerontologen könnten bei Seniorbook Feldforschung betreiben. Innerhalb kürzester Zeit könnten sie eine „Typologie des Menschen“ erstellen. Dazu habe ich schon ein wenig Vorarbeit geleistet. Wer sich unter den 15 Typen nicht wiederfindet, der ist eben ein absolutes Unikat.
Der Prediger
Er zeichnet sich durch eine hohe rhetorische Begabung aus und vertritt seine Auffassung mit großem Enthusiasmus. Manche verkennen ihn als Missionar und beben geradezu vor Abwehr. Er ist im Grunde nur von seiner Sicht der Dinge auf der Welt und im Himmel überzeugt und möchte andere daran teilhaben lassen. Im Grunde ein gütiger, aber vielleicht ein wenig übereifriger Zeitgenosse.
Der Narziss, die Narzisse
Man sieht ihn mit nacktem Oberkörper an der Fotowand hängen oder auch mit auffällig gespreizten Beinen – vor Männlichkeit strotzend – ganz ohne Kopf.
Eine Narzisse zeigt entweder ihre wunderschönen, erstaunlich glänzenden Augen unter einer prächtigen, meist blonden Mähne oder eine prall gefüllte Dirndlbluse – auch ohne Kopf möglich – und als letzte Steigerung schwarze Spitzenstrümpfe an endlos langen Beinen, die oben abrupt abgeschnitten werden und die letzte Steigerungsmöglichkeit dem Betrachter verweigern.
Eine weitere Variante ist der/die ProfilwechslerIn, die sich offenbar ständig mit sich selber langweilen und den sehhungrigen Mitmenschen viele unterschiedliche Fotos aus ihrem langen Leben vorführen.
Hier tritt sozusagen die historische Komponente hinzu, und die Aussage lautet dann: Ich war SCHON IMMER EINZIGARTIG!
Auch das ist amüsant, inspirierend und narzisstisch.
Abgesehen von Narzissen, die – wie der erste – in ihre eigene äußere Schönheit verliebt sind, gibt es den schöngeistigen Narziss. Oft fällt er schon durch einen langen Namen auf, der irgendwie aus dem Rahmen fällt, und schon deswegen fühlt er sich verpflichtet, in möglichst vielen Begabungsfeldern Großartiges zu leisten. Da werden traumhaft schöne Gedichte geschrieben, die beim Leser Gänsehaut hervorrufen, Satiren, Erzählungen, alles formvollendet, inhaltsreiche Kommentare zu verschiedensten Themen – ein Alleskönner, der das Recht hat, sich selbst zu lieben.
Das hat zwar eigentlich jeder, aber meist brauchen Narzisse zusätzlich eine Bestätigung wie der historische Narziss sein Spiegelbild im Wasser.
Der Wollüstige
Er mag sogar die Erscheinung eines zurückhaltenden Mannes konservativer Prägung annehmen, bis man, total überrascht, auf ein Foto stößt, das so gar nicht zu seinem Verhalten passt:
Nehmen wir an, er sei Fotograf und komme auf die Idee, ein ganz junges Mädchen in einer besonderen Stellung zu fotografieren.
Sie kniet auf dem Boden, beugt sich nach vorn .und stützt sich auf ihre Hände. Man sieht sie im Profil und konzentriert sich auf die schimmernde Haut ihres Körpers (ohne Kopf).
Nun genügt das dem wollüstigen Künstler noch gar nicht. Er stellt eine Kerze oben auf den reizenden Po, und nun läuft das heiße Wachs an den Schenkeln herunter. Eine junge Frau, mit einer Perlenkette aus heißem weißem Wachs bekleidet – masochistisch? Nein, zelebrierte Wollust!
Wollüstige Erzählungen gibt es zuhauf. Vor allem in der Rubrik GESCHICHTEN, DIE DAS LEBEN SCHREIBT. Da wird z.B. meist von männlichen Wollüstlern der Liebesakt ausführlich geschildert. So lässt sich alles noch einmal erleben, wenn man das rote Höschen der Geliebten auszieht – und die halbe Welt guckt zu!
Die Gouvernante
Ja, die gibt es auch noch! Sie durchsucht die Fotowand auf anstößige Objekte und drückt ihre Abscheu dann in einer kurzen Notiz am SCHWARZEN BRETT aus:
Wenn das Foto von Soundso nicht augenblicklich verschwinde, müsse sie sich hier ABMELDEN. Welcher Sittenverfall, welcher Mangel an Ästhetik!
Und dann wird in 200 bis 300 Kommentaren dieser unsägliche Affront kommentiert, zurückgewiesen, heftig unterstützt. Gedanken kreisen um das armselige Fotomodell und die liebreizende Gouvernante, die sich nun 200 bis 300 mal dem applaudierenden Publikum präsentiert.
Aufsehen erregen – warum denn nicht! Gesehen werden, erkannt werden, als Menschenfreund, als Misanthrop, als Gouvernante – das ist fast egal.
Der Guru
Es gibt ihn auch. Er meint, anderen die Welt erklären zu können. Er unterschätzt gelegentlich die anderen, die anderen unterschätzen ihn. Mitunter erscheint er als weiser, alter Lehrer, dem nichts mehr fremd ist, der seinen Weg unbeirrt geht und dem es egal ist, ob andere sich ihm anschließen oder nicht.
Das ist allerdings selten der Fall, denn er ist so gar nicht mehr von dieser Welt – und die andere Welt – gibt es sie überhaupt?
Ob er einen Bart hat? Welch lächerliche Frage!
Das Weibchen
Sie legt es darauf an, mit allen Männern Katz und Maus zu spielen. Sie lockt mit Blicken und Worten, wird verfolgt, verschlungen, angebetet – leider alles nur virtuell. Sie mag im wirklichen Leben eine kluge, treue, tüchtige Ehefrau sein, die hier – hinter Glas – ihre frühere Rolle belebt. Das ewige Spiel – neu inszeniert – und alle fallen drauf rein.
Die Angeberin
Eigentlich fällt sie nur auf, wenn sie sich in einer Notiz weitschweifig über das schlechte Niveau bei SB beklagt. Kein Mensch weiß, auf welchem Niveau sie sich selber befindet, denn meist ist sie erst kurze Zeit da, hat noch nie einen längeren Text geschrieben, und ihre Klagenotiz verzichtet großzügig auf alle Kommas.
Aber sie empfindet sich irgendwie an einem „unwürdigen Platz“, den das Schicksal ihr quasi zugemutet hat, und sie kann dieses Versehen nicht klaglos hinnehmen.
So werden an diesem Tag Hunderte ihre hohen Ansprüche loben, inbrünstig in ihr Klagelied einstimmen – oder seltener – sie um ein Körnchen Selbstkritik bitten.
Vielleicht gefällt es ihr am Abend schon besser, und sie mutiert dann zu einem Schmetterling (s. unten!).