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Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus
Читать онлайн.Название Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln
Год выпуска 0
isbn 9783957442833
Автор произведения Inez Maus
Жанр Биографии и Мемуары
Издательство Автор
Trainingsmethoden zur Verbesserung der Lese- und Rechtschreibleistungen gab es in Hülle und Fülle, ebenso mangelte es im Fachhandel nicht an diversem Übungsmaterial. Da jedoch keine typischen Legasthenie-Fehler existieren, sondern vielmehr jedes Kind seine eigenen Fehler macht, schien es uns sinnvoll, an dieser Stelle anzusetzen. Wir analysierten Benjamins Fehler und stellten sehr schnell fest, dass ihm nie Fehler beim Setzen von Satzzeichen sowie bei der Groß- und Kleinschreibung unterliefen. Schon früher war uns aufgefallen, dass unser Sohn die deutsche Sprache nicht wie seine Muttersprache, sondern wie eine Fremdsprache erlernte. Zwangsläufig fragten wir uns deshalb, ob Benjamins bildhaftes Erfassen der ihn umgebenden Welt als seine eigentliche „Muttersprache“, oder wohl eher als sein „Urdenken“, anzusehen war. Des Weiteren unterliefen unserem Sohn beim Schreiben von Diktaten am Computer auffallend weniger Fehler im Vergleich zu handschriftlichen Diktaten (in das Schreibprogramm von Benjamins Computer war zur damaligen Zeit keine Rechtschreibkontrolle implementiert). Der Grund hierfür war wohl darin zu sehen, dass die feinmotorische Anstrengung beim Schreiben mit der Tastatur weitgehend wegfiel und unserem Sohn so mehr Energie zur Konzentration auf die Rechtschreibung zur Verfügung stand. Die Verknüpfung dieser beiden Beobachtungen brachte mich auf die Idee, für Benjamin Computerprogramme zu besorgen, die für Ausländer, welche die deutsche Sprache erlernen wollen, konzipiert waren. Diese Programme erklärten auch Dinge, welche für Muttersprachler selbstverständlich sind. Benjamin nahm diese Übungen gut an und zeigte keine Probleme damit, dass die Aufgaben ausnahmslos für Erwachsene gedacht waren. Einige Fragen, wie beispielsweise „Bist du verheiratet?“, verwirrten ihn anfangs, aber unsere Erklärung, dass dies ein Programm für Erwachsene ist, genügte ihm als Begründung. Besonders große Erfolge bescherte uns Lernsoftware vom Auralog-Verlag, weil diese Programme über eine Spracherkennung verfügten. Für Benjamin war es ausgesprochen effektiv, auf dem Monitor eine Kurve zu sehen, die ihm zeigte, wie gut sein gesprochenes und mit einem Mikrofon aufgenommenes Wort mit dem Idealbild des Wortes übereinstimmte. Er brauchte eine Weile, bis er akzeptierte, dass die Kurven nie ganz gleich sein würden. So trainierte er nicht nur Schreiben, sondern auch Hören und Sprechen. Je besser er die Wörter hören und sprechen konnte, desto fehlerfreier wurde ihre Verschriftung. Wir registrierten jedoch umgekehrt auch den Effekt, dass unser Sohn jetzt Wörter deutlich aussprechen konnte, von denen er die korrekte Schreibweise gelernt hatte. So gelang ihm zum Beispiel nach knapp einem Übungsjahr die verständliche Aussprache des beliebten Satzes „Die Griechen kriechen nicht.“ Auch wenn sich diese Schilderungen jetzt einfach anhören, so stellten sich dauerhafte Erfolge erst nach jahrelangem, zähem Üben ein.
Schulferien, egal ob kurze oder lange, brauchten für Benjamin immer eine feste Struktur, andernfalls pflegte sein Wohlbefinden erheblich gestört zu sein, was für alle Beteiligten äußerst anstrengend und unangenehm werden konnte. Einfach einmal so in den Tag hinein leben, das war etwas, was unseren Sohn außerordentlich verunsicherte und beunruhigte. Deshalb begann ich in diesem Sommer damit, Ferienpläne zu schreiben. Ich erstellte für jedes Kind eine Liste mit Aktivitäten, die in verschiedene Unterkategorien aufgeteilt waren, und legte für unbekannte Orte und Tätigkeiten Informationsmaterial bereit. Jeder konnte nun in der Liste ankreuzen, was er gern tun wollte. Der Sinn und Zweck der ganzen Aktion bestand darin, dass ich nicht mehr nur wie ein Animateur für Benjamin auftreten wollte, sondern dass unser Sohn selber entscheiden sollte, was er tun möchte und was nicht, denn Entscheidungen zu treffen, fiel ihm sehr schwer. Meistens traf er eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung und um dem vorzubeugen, gab es auf meiner Liste Punkte, die Pflicht für Benjamin waren. Weiterhin forderte ich meinen Sohn auf, eine bestimmte Mindestanzahl an Aktivitäten aus jedem Block auszuwählen, wobei meine erste Liste aus folgenden Blöcken bestand: Partys, Innenaktivitäten (Brettspiele, Experimentierkästen, Basteln), Außenaktivitäten (Sportspiele, Museen und Gärten, Baden), Essenswünsche und Nachtaktivitäten. Während Pascal und Conrad über die maximal mögliche Anzahl der Wünsche jammerten, weil sie mehr Ideen und Interessen hatten, als zeitlich in den Ferien unterzubringen waren, quälte sich Benjamin sehr damit, die Mindestanzahl an Aktivitäten in jedem Feld auszuwählen. Die Ferienpläne galten nur für die Zeit, die wir zu Hause verbrachten, nicht aber für die Dauer unserer Reisen. Nachdem alle Kinder ihre Wünsche geäußert hatten, trug ich diese in unsere im Flur aufgehängten Wochenpläne ein und versah die Aktivitäten mit kleinen Bildchen, um Benjamin und Pascal die Orientierung zu erleichtern. In den folgenden Jahren ermunterte ich meine Kinder, die Ferienpläne selber zu schreiben, am Ende der Ferien verschiedene Aktivitäten zu bewerten und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Später überließ ich ihnen die komplette Planung von einzelnen Ausflügen, Partys oder Thementagen zu Hause. Leon kreierte als Anreiz für Benjamin die Auszeichnung „Partymeister“, welche aus einer Urkunde und einem Geschenk bestand und in Bronze, Silber und Gold vergeben wurde. Benjamin strengte sich unheimlich an, um auch in den Besitz der begehrten Prämien zu gelangen. Lernprogramme, verschiedene Aufgaben zur deutschen Sprache sowie Arzt- und Therapietermine prägten viele Jahre lang die Schulferien der Kinder, da wir es uns nicht erlauben konnten, größere Pausen in Benjamins Übungen zuzulassen, weil er jedes Mal nach derartigen Pausen, welche durch Reisen und Weihnachten entstanden, mindestens drei Wochen benötigte, um seinen Arbeitsrhythmus wiederzufinden.
Burger und Eis, das waren die beiden „Gerichte“, welche Benjamin in diesem Sommer zuzubereiten lernte. Eine Zutatenliste für die Burger erstellen, die Lebensmittel einkaufen und dann den Tisch decken, dafür benötigte unser Sohn mit genauen Anweisungen – Schritt für Schritt und immer wieder erklären – fast den ganzen Tag, obwohl die Buletten für die Burger schon von Leon fix und fertig gebraten worden waren. Conrad und Pascal bereiteten in dieser Zeit gemeinsam einen Obstsalat zu, sozusagen aus Langeweile. Benjamin in die Küche zu locken, war der erste Erfolg in diesen Ferien, der zweite bestand in einer riesengroßen Blumenwiese, welche wir vier alle zusammen aus den verschiedensten Materialien bastelten. Die Ideen und der Elan meiner Randkinder waren dabei unerschöpflich, so zierte beispielsweise eine lilafarbene „Löffelblume“ die Mitte des Kunstwerkes, welche aus gehorteten Plastiklöffeln zusammengesetzt worden war. Benjamin ließ sich von der Begeisterung seiner Brüder in gewissem Maße mitziehen und leistete auch einen Beitrag, wobei es seine Idee war, der Wiese ein Flüsschen mit Fischen und Seerosen zu verpassen. Es kostete unseren mittleren Sohn unvorstellbar viel Kraft, so lange mit seinen Brüdern zusammenzuarbeiten, denn üblicherweise bevorzugte er es, allein zu basteln, zu zeichnen … Da ich aber wusste, wie wichtig es in seiner späteren Schullaufbahn einmal sein wird, in einer Gruppe bestimmte Dinge zu erledigen, war ich der Meinung, dass ich gar nicht früh genug damit anfangen konnte, dies mit Benjamin zu üben. Nahezu alles, was Conrad und Pascal mit Freude erfüllte, bedeutete für Benjamin eher Training oder Therapie. Abgesehen vom Lesen, Bauen mit LEGO-Bausteinen oder Spielen von Computerspielen tat unser mittlerer Sohn fast gar nichts freiwillig. Dass mein Handeln dennoch richtig war, bestätigte mir Benjamin drei Jahre später, wo er nach jeder Aktion, zu der ich ihn genötigt hatte, sagte: „Danke, Mami, dass du mich gezwungen hast.“
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