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zögerte; anscheinend hatte sie irgendetwas gesehen, was sie sehr beunruhigte. Sie fuhr immer wieder mit ihren dünnen Fingern die Linien auf den Händen nach, schaute zuerst Helena, dann Raymund in die Augen, schüttelte den Kopf, verglich erneut die Hände und setzte endlich an zu sprechen: »Kind des Glücks und Kind der Sünde. So verschieden ihr auch in eurem Aussehen seid, eure Hände deuten etwas ganz anderes. So weit wie die Vergangenheit euch aus verschiedenen Richtungen zusammengeführt hat, so eng wird die Zukunft euer beider Leben vereinen. Doch stehen widrige Umstände bevor, die von allen große Geduld fordern werden. Ich sehe einen weißen Mönch und einen schillernden Mann, beide bereiten große Schmerzen. Was für die eine Hand sieben Monate, sind für die andere sieben Jahre. Die Macht des Propheten, die die eine Hand zerstören will, rettet sie; die Macht der Kirche, die die andere Hand verbrennen will, befreit sie.«

      Raymund schüttelte den Kopf. Es gab für ihn keinen Sinn, und als Marfisa abschließend seine und Helenas Hand mit ihrer zu umschließen suchte, winkte er unwillig ab.

      »Es hat mich viel Kraft gekostet«, versuchte sich die Hellseherin zu entschuldigen.

      »Ich danke Euch, gute Frau. Ich werde Eure Worte stets bei mir tragen.« Helena stand auf und verabschiedete sich von Marfisa.

      Raymund drehte sich um und ließ die Wahrsagerin grußlos zurück. »Ich habe genug gehört. Was für dummes Zeug. Kind des Glücks und Kind der Sünde, die Macht des Propheten und ein weißer Mönch! Was soll das denn alles bedeuten?«

      »Vieles habe ich mir auch nicht erklären können. Das Schönste ist aber doch, dass wir beide eine gemeinsame Zukunft haben; das habe ich mir immer gewünscht. Ich liebe dich, mein Bruder, seit ich dich kenne, und so wie es aussieht, mein ganzes Leben lang.«

      Raymund nahm seine Schwester in den Arm und küsste sie auf die Stirn.

      9

      Otto stand vor der Barfüßerkirche und wartete. Seit seiner dringenden Aufforderung an Hieronymus Rehlinger, Raymund so schnell wie möglich aus Leeder in die Stadt zu holen, war ein ganzes Jahr vergangen. Aber sie schien erfolgreich gewesen zu sein. Der Denklinger Pfarrer hatte ihm in einem Brief – neben den Schwierigkeiten mit den Schwenckfeldern in Leeder, den hohen Schulden auf dem Gut und der Rehlingertochter, die mit Krähen spricht – auch von dem Sohn geschrieben, den man nach Augsburg geschickt hatte. Es konnte nur Raymund gewesen sein. Aber wohin hatten sie ihn geschickt? Vorsichtig hatte er bei der städtischen Handwerkergilde nachgefragt. Otto war entsetzt, als man ihm mitteilte, dass Raymund Rehlinger als Büchsenmacherlehrling beim protestantischen Benzenauer eingetragen war. Diese Berufswahl hatte doch wenig mit den geistigen Fähigkeiten zu tun, die er glaubte, seinem Sohn vererbt zu haben. Er hatte sich Raymund als Studenten vorgestellt, vielleicht im katholischen Italien, jedenfalls weg aus dem protestantischen Leeder. Er sollte ein guter Mensch und Christ werden. Nach der Jugend bei den Schwenckfelderketzern arbeitete er nun in einer Waffenschmiede. Otto seufzte. Hatte er überhaupt das Recht, Erwartungen in diesen Menschen zu setzen, den er selbst seinem Schicksal und der Huld und Güte Gottes überlassen hatte? Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Raymund in Augsburg vor den Nachstellungen der Inquisition sicher war. Er lächelte, wenn er daran dachte, dass das von ihm angestrebte Rechtsgutachten aus Ingolstadt dem Kardinal eine Untersuchung in Leeder untersagt hatte, vorerst. Ach, Raymund … in zwei Wochen würde er fünfzehn werden. Auch wenn er sich ihm nie würde offenbaren können, verspürte er ein unbändiges Verlangen, seinen Sohn wenigstens zu sehen. Er war immer wieder durch das Lechviertel spaziert, in der Hoffnung, dass er ihm begegnen würde, hatte sogar daran gedacht, beim Benzenauer anzuklopfen, um missionarisch tätig zu werden. Doch immer wieder hatte er gezögert. Schließlich kam er auf die Idee, dass der Kirchgang eine günstige Gelegenheit wäre. Für Otto war selbstverständlich, dass die Benzenauersippe im Lechviertel zu den Barfüßern zur sonntäglichen Predigt ging.

      Da stand er nun vor der protestantischen Kirche. Es schmerzte ihn zu sehen, wie viele Menschen sich von seiner katholischen Kirche abgewandt hatten. Es waren eben nicht nur die Gebildeten, sondern Menschen aus allen Schichten, darunter viele Handwerker. Allen, die hier einzogen in ihrem protestantischen Einheitsgrau, hätte er am liebsten zugerufen: Kommt zurück, ihr seid auf dem falschen Weg! Seine Augen musterten die Handwerkerfamilien, die an ihren bunten Zunftwappen leicht zu erkennen waren, eine nach der anderen. Letztlich schlossen sie die Tore. Otto blieb alleine vor der Kirche zurück. Raymund war nicht dabei gewesen.

      10

      Augsburg, September 1578

      Raymund war bereits im zweiten Lehrjahr. Es hatte sich nicht viel verändert, wenigstens durften er und Jos ab und zu an die Werkbank. Am heutigen Sonntag verließ er nach dem gemeinsamen Gottesdienst mit Remigius und Jos den Dom und verabschiedete sich von seinen Freunden. »Ich mache einen Besuch bei einem Freund meines Onkels«, sagte er, was nicht gelogen war. Raymund wollte der seit Langem ausgesprochenen Einladung endlich folgen.

      Meister Altenstetter persönlich öffnete ihm. Raymund war ein weiteres Mal beeindruckt von der aufrechten Gestalt und schüttelte ihm die Hand.

      »Guten Morgen, junger Freund, du hast meine Einladung doch nicht vergessen, komm herein!«

      »Meister, ich bin gekommen, weil es mir … Weil die Sache mit dem … Weil ich Euch um einen großen Gefallen bitten möchte«, stammelte Raymund.

      »Ich bin dein Bruder David, also nenne mich nicht Meister; denn wer außer Jesus selbst verdiente es zu Lebzeiten, dass seine Jünger ihn so nannten. Jetzt lass uns erst einmal ins Haus gehen, mein Weib wird dir gerne etwas zu trinken geben.« Er schob Raymund in den Hauseingang, in dem seine Frau im Sonntagsgewand wartete.

      »Das ist Raymund Rehlinger, Catherina, ein Bruder im Geiste. Wir haben uns bei der Witwe kennengelernt. Er geht beim alten Benzenauer in die Lehre.«

      Catherina umarmte ihn herzlich, wie es bei den Schwenckfeldern der Brauch war. »Sei willkommen, Bruder, ich nehme an, der Kaufmann Hieronymus ist ein Verwandter von dir. Wir kennen ihn, seit wir in Augsburg wohnen. Er war uns eine große Hilfe bei vielen Dingen und hat uns manche Tür geöffnet. Was möchtest du trinken?«

      »Ich trinke gerne einen Saft, wenn es recht ist.« Raymund sah sich verwundert im Haus um. Schnell wurde ihm klar: Hier wohnte ein Mann, der weder seinen Wohlstand aus dem Zehnten der Bauern und der Arbeitskraft von Leibeigenen zog noch auf die Schieß- und Jagdleidenschaft der Leute höheren Standes angewiesen war wie sein Lehrmeister. Der Bewohner dieses Hauses stand mit Fürsten, Adligen und Königen in Verbindung und war reich.

      »Raymund, hör zu! Bevor ich dir meine Werkstatt zeige, musst du mir das Versprechen geben, keinem Menschen davon zu erzählen. Sowohl über das, was du von mir erfährst als auch über das, was du sehen wirst.«

      »Ich verspreche es Euch, Meister, äh Bruder«, verbesserte sich Raymund rasch.

      »Na

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