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      Abgesehen davon, dass mich dieser Professor absichtlich getäuscht hatte, hatte er mein uneingeschränktes Vertrauen in Autoritätspersonen stark beschädigt. Daher beschloss ich, diesen Verrat zu rächen und selbst zur Autoritätsperson zu werden. Mein neuer Berufswunsch war Lehrerin. Ich fand, das sei eine gute Idee, weil sich meine geliebte Rolle so nicht allzu sehr verändern müsste. Lediglich die Perspektive würde sich um 180 Grad drehen: Statt einer Person (aus der Perspektive der Schülerin) hätte ich nun einfach 26 (aus der Perspektive der Lehrerin) vor mir. Sport und Englisch auf Lehramt, das war jetzt mein Plan. Zwar war ich in meiner Jugend im Volleyball- und Badminton-Verein, doch die Rolle der Sportlerin mit Leib und Seele hatte ich nie richtig ausgefüllt, das war mir dann doch zu anstrengend. Für das Studium wäre es jedoch ganz gut gewesen, sich nicht nur vorzustellen, diese Rolle einnehmen zu können, sondern sie auch tatsächlich zu verkörpern. Dass dies nicht auf mich zutraf, wurde mir selbst erst klar, als ich bei der Sport-Aufnahmeprüfung in der Disziplin 60-Meter-Kraulen im wahrsten Sinne des Wortes unterging. Es war einfach zu viel. Zu viel Wasser in meiner Nase, in meinen Ohren, in meinen Augen – und zu wenig Kondition in meinen Muskeln. Ich zog mich mit letzter Kraft aus dem Schwimmbecken, schleppte mich in die Umkleide, traf dort auf Sara, die die Aufnahmeprüfung ebenfalls nicht geschafft hatte, fragte sie, was sie denn jetzt machen würde, und als sie antwortete: „Ich schreibe mich für Wirtschaftspädagogik ein!“, stand auch mein nächstes Berufsziel fest: Wirtschaftspädagogik. Klang gut, das genügte. Bis dahin hatte ich mit Wirtschaft noch nie etwas zu tun gehabt. Ich hatte ein mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium besucht. Aber darüber machte ich mir keine Gedanken, schließlich kannte ich Sara, und das genügte mir. Das Studium war eine noch größere Unbekannte als vermutet. Da gab es Themen, die ich noch nie zuvor gehört hatte: Kostenrechnung und Buchhaltung. Aber ich stellte mich dieser Herausforderung. So lange, bis mich mein Kostenrechnungs-Professor im vierten Semester fröhlich mit den Worten begrüßte: „Herzlich willkommen zum dritten Anlauf, liebe Kollegin. Der Inhalt ist Ihnen ja schon bekannt. Ich werde also in diesem Semester versuchen, Sie mit meinem neuen Anzug zu begeistern.

      Über drei Jahre hinweg wurde mir eindrücklich bewiesen, dass jeder Beruf, von dem ich gedacht hatte, dass er der richtige für mich sein könnte, unerreichbar war. Ich konnte nichts von dem, von dem ich dachte, dass ich es könnte. Außerdem war mir die Rolle der Studentin irgendwie suspekt. So konnte es nicht weitergehen. Ich musste etwas ändern, und zwar: meine Vorgehensweise. Ich begann, Dinge auszuprobieren, von denen ich bis dahin überzeugt gewesen war, dass ich sie überhaupt nicht konnte: Singen, Gitarre spielen und Schauspielern. Zu jedem dieser Bereiche gab es einen Kurs an der Volkshochschule und ich kehrte 2002 glücklich zurück in meine geliebte Rolle als brave Schülerin.

      In den Kursen für Singen und Gitarre spielen hatte ich ziemlich schnell Erbarmen mit meinen LehrerInnen. Nach nur vier Wochen beendete ich unsere gemeinsame Qual. Aber der dritte Kurs, das Schauspielern, schaffte es tatsächlich, mich, mein Denken und mein Handeln zu verändern. Am Ende dieses Kurses trat ich nach Grafikdesign und Sport zu meiner dritten Aufnahmeprüfung an. Diesmal an einer Schauspielschule. Es wurde mein erster Erfolg nach drei Jahren.

      Ich war angekommen und durfte von da an Momente des wahrhaftigen Schau-Spiels erleben, in denen man nicht denken durfte, sondern sein musste. Das oberste Ziel des Schauspielers ist es, im Moment, in der Situation, in der Figur zu sein. Und ich war einfach. Ich war im Spiel und damit in der Essenz meiner Existenz angekommen. Mein erster Moment des Glücks, der nach bestandener Aufnahmeprüfung meine Mutter zu folgendem, denkwürdigen Satz veranlasste: „Du willst jetzt nicht etwa Schauspielerin werden, oder?“ Allen Hindernissen zum Trotz: Ja, ich wurde Schauspielerin. Seitdem ist das Spiel mein ständiger Begleiter. Auf der Bühne, als Methode im Training und als Haltung im Miteinander. Mein Ziel ist heute, jede Begegnung, jede soziale Interaktion als gutes und glückliches Spiel zu gestalten. Mit dem Ernst, den es verdient, und der Leichtigkeit, die es braucht.

      Wie bei jedem Spiel bedarf es auch für das Spiel des Lebens einer Spielanleitung, um es erfolgreich spielen zu können und darin sein Glück zu finden. Eine solche Spielanleitung soll dieses Buch sein. Eine Anleitung, die ich aus meinen Erfahrungen heraus für mich und mein Leben entwickelt habe. Sie basiert auf Theorien und Methoden aus dem Schauspiel, meinen Erkenntnissen zu sozialen Rollen als Supervisorin und Coach, der Auseinandersetzung mit Theorien von Mead bis Goffman bis hin zu meiner jahrzehntelangen Praxis im sozialen Rollenspiel. Auf diesen Pfeilern hat sich meine Idee darüber entwickelt, wie wir uns das Leben leichter machen können. Dabei handelt es sich um eine Idee, eine Anregung, eine Sichtweise und um eine Wahrheit. Nicht um die Wahrheit, sondern um (m)eine Wahrheit. Auf der Welt gibt es davon unzählige.

      Viele Menschen behaupten, sie hätten die eine Wahrheit gefunden und nur sie wären im Recht. Das mag für sie selbst schon stimmen, aber eben auch nur für sie selbst. In meiner Rolle als Anhängerin des Konstruktivismus darf ich dieser Haltung vehement und mit Leidenschaft widersprechen. Im Verständnis des Konstruktivismus lebt jeder von uns in seiner eigenen Welt, in seiner eigenen Wirklichkeit und in seiner subjektiven Wahrnehmung. Ich will Dir daher nicht sagen, was Du tun sollst/kannst/musst, um glücklich zu sein. Das kann ich nicht, denn es ist Dein Leben. Ich kann Dir nur Handwerkszeug zur Verfügung stellen, das Dich Deinem Glück ein Stück näher bringen kann. Wie eine Art Goldwaschpfanne, die Dir dabei hilft, die Goldnuggets des Glücks im Kies und Geröll des Lebens zu finden. In den Fluss musst Du aber selbst steigen, um Dein Gold zu waschen. Das heißt: Du musst selbst etwas tun. Nur dieses Buch zu lesen wird keine Veränderung bringen. Das wusste bereits Goethe, obwohl er mein Buch gar nicht kannte, als er feststellte: „Der Worte sind genug gewechselt, lasset mich endlich Taten sehen.“

      Daher: Lasset das Buch beginnen!

      2. Schritt 1: Vorbereitungen für den Weg zum Sein

      Bevor Du mit Deinem Weg beginnst, solltest Du, wie für jede gut geplante Reise, Vorbereitungen treffen. Du kannst dazu Landkarten studieren, Google Maps herausfordern oder Reisetipps recherchieren. Das alles bringt Dich bestimmt weiter. Vielleicht sogar bis nach Sommerloch im Kreis Bad Kreuznach oder bis nach Aua in der Gemeinde Neuenstein. Ziele gibt es viele, Wege wohl noch mehr. Wenn Du Dein Sein allerdings nicht in Sommerloch oder Aua finden möchtest, würde ich Dir zur Vorbereitung Folgendes vorschlagen:

      2.1 Beginne damit, etwas zu tun

      Um Goethe nicht zu enttäuschen: Tue etwas und hole Dir als erstes einen Stift. Ganz egal, ob Kugelschreiber oder Bleistift, einfach einen Stift, der schreibt. Und jetzt beantworte bitte hier an dieser Stelle, spontan und aus dem Bauch heraus, folgende Frage: „Wer bist Du?“ Nicht überlegen! Schreiben!

      Nachdem Du nun Deine Antwort notiert hast, folgt sogleich die zweite Frage: „Was war Dein erste Gedanke, nachdem Du meine Frage gelesen hast?“ Und da darfst Du ganz ehrlich sein:

      Da ich ziemlich neugierig bin, stelle ich mir natürlich die Frage: Was hast Du notiert? Am ehesten würde ich für die erste Frage eine Antwort wie „Ich bin Marie, Harald, Kerstin, Oliver“ vermuten. Denn mit unserem Namen machen wir nichts verkehrt, egal wer uns gegenüber steht. Als Teil unseres offiziellen, europäischen Begrüßungsrituals passt er zu jeder Situation, ist unverfänglich und ein netter Auftakt für das obligatorische Händeschütteln im Anschluss.

      Natürlich kann es auch sein, dass Du Deine Vorstellung etwas ausführlicher gestaltet hast. Dann wäre die Kombination aus Name und Beruf am wahrscheinlichsten, wie zum Beispiel: „Ich bin Marie und ich bin Stewardess.“ Besonders bei offiziellen Anlässen und Personen gegenüber, die wir nicht so gut kennen, gibt diese Variante Informationen über uns preis, die etwas mehr, aber auf keinen Fall zu viel von uns verraten. Mit der Nennung unserer Berufsrolle haben wir für einen kurzen Smalltalk auf jeden Fall unsere Schuldigkeit getan. Sie bietet unserem Gegenüber einerseits die Möglichkeit, das Gespräch durch eine humorvolle Rückfrage, wie z.B. „Sehr interessant. Haben Sie keine Flugangst?“, aufrechtzuerhalten – oder es schnell

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