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Bei abnehmendem Mond. Jörg M. Pönnighaus
Читать онлайн.Название Bei abnehmendem Mond
Год выпуска 0
isbn 9783898968621
Автор произведения Jörg M. Pönnighaus
Издательство Bookwire
Auch dieses Mal war Mtandi immer noch dabei, den längst toten Augustin zu beatmen.
Ich kam zu spät.
Polyphem
[14. August 2006]
Ich ging noch auf der Entbindungsabteilung vorbei, einfach so, um zu sehen, ob alles ruhig war oder ob ich gerufen werden würde. Es war später Nachmittag. Serapia und Asha hatten Dienst. Es gab eine Neuaufnahme, die ich noch nicht gesehen hatte. Fatuma hieß die Frau. Aus Nawigo. Nawigo, das kleine Dorf zwischen Lugala und Malinyi, so man den direkten Pfad durch die Felder geht.
Es war Fatumas erste Schwangerschaft. Ein Meter dreiundfünfzig groß. Kindliche Herzfrequenz 134. Keine Wehen. Sie habe zuhause mal für eine kurze Zeit Wehen gehabt. Sie war gekommen, weil sie im rechten Oberbauch Schmerzen hatte. Nichts Besonderes, schien mir, aber ich wollte trotzdem einen Blick auf sie werfen.
Mir fiel auf, dass der Bauch sich an einer Stelle vorwölbte und ich die Füße oder irgendetwas Kindliches jedenfalls durch die Bauchdecke tasten konnte. Als wäre der Uterus geplatzt. Aber wie konnte das sein, wenn Fatuma noch keine richtigen Wehen gehabt hatte? Und außerdem reißt ein Uterus im unteren Segment ein und nicht am oberen Ende!
»Ich schaue wohl besser im Ultraschall nach, was da los ist.«
Asha brachte mir die Frau zum Ultraschallzimmer. Sie hatte Fatuma aufgenommen. Und war der Uterus nun geplatzt oder war er nicht geplatzt? Sicher war die Gebärmutter an einer Stelle ganz ganz dünn; aber ob sie geplatzt war? Ich konnte mich nicht entscheiden. Und wo war das Herz? Ich fand es nicht. Ich suchte und suchte und suchte, aber ich fand einfach kein schlagendes Herz.
»Wo haben Sie es gehört?«
»Dort«, Asha zeigte mir eine Stelle links neben dem Nabel.
Ich suchte noch einmal, ich fand kein schlagendes Herz.
»Bewegt sich Ihr Kind?«
»Ja.«
»Hm.« Während der Untersuchung hatte es sich jedenfalls kein bisschen bewegt. Der Kopfdurchmesser war 90 mm.
Ich sagte zu Asha, sie solle Fatuma wieder mit zurück auf die Station nehmen und mir dort zeigen, wo sie die Herztöne gehört hatte.
Ich folgte ihr.
Asha bemühte sich, die Herztöne zu finden.
Serapia bemühte sich die Herztöne zu finden.
Vergeblich.
Na ja, wenn es tot war, war vielleicht doch der Uterus geplatzt?
»Bewegt sich Ihr Kind wirklich noch?«
»Vor zwei Tagen hat es sich bestimmt noch bewegt.«
Ich konnte mir keinen Reim aus den Befunden machen. Hatte Asha wirklich Herztöne gehört? Und wieso waren die nun einfach nicht mehr aufzufinden? »Rufen Sie das OP-Team.«
»Kann der Uterus wirklich geplatzt sein, wenn die Frau gar keine Wehen hat«, fragte mich Lenna, die die Narkose gab.
»Eigentlich nicht; aber im Ultraschall sieht es wirklich so aus, als könnte er geplatzt sein. Und das Kind scheint tot zu sein. Aber klar ist mir das alles auch nicht!«
Längsschnitt.
Bevor ich die Gebärmutter aufschnitt, tastete ich sie ab. Ja, an einer Stelle wölbte sich die Uteruswand vor und schien sie ganz dünn zu sein. Aber geplatzt war sie nicht. Na gut, dann war es eben eine Fehlentscheidung gewesen, einen Kaiserschnitt zu machen. Das kam halt vor. Oder vielleicht war es auch keine Fehlentscheidung, denn sicher wäre der Uterus an eben der Stelle gerissen, sobald Fatuma richtige Wehen bekommen hätte. Und ein geplatzter Uterus gestaltet sich sehr sehr schnell zu einem Wettlauf mit dem Sensenmann!
Querschnitt durchs untere Segment. Fruchtwasser spritzte im Strahl durch den Saal, durchnässte das Hemd von Ndali. Wir lachten. Na ja, bei so viel Fruchtwasser würde mit dem Kind irgendetwas nicht stimmen, dachte ich. Mit der rechten Hand holte ich den Kopf aus dem unteren Segment. Das Kind lebte noch! Aber es hatte nur ein Auge. Ein Kyklop! Scheiße, es lebte noch. Ein Mädchen. Es öffnete sein eines Auge. Schrie. Sehr schrill.
Tindwa durchtrennte die Nabelschnur, ich gab das Kind Serapia.
Schweigend nähte ich den Uterus wieder zu.
Schweigend ging ich später zum Entbindungszimmer.
»Lebt das Kind noch?«
»Es atmet noch«, antwortete Serapia.
Ich ging zu dem Kind hin und legte ihm eine Decke über den Kopf.
»Es ist tot«, sagte ich.
»Wir haben bei der Morgenbesprechung gehört«, sagte Claudia (die Medizinstudentin) am nächsten Morgen, »dass gestern ein Kind mit nur einem Auge geboren wurde. Stimmt das?«
»Ja«, sagte ich. Ich hatte die Morgenbesprechung wegen eines weiteren Kaiserschnittes verpasst.
»Ich dachte, so etwas gibt es nur in Büchern!«
»Was geschah dir für Leid, Polyphemos, dass du so brülltest
Durch die ambrosische Nacht, und uns vom Schlummer erwecktest?
Raubt der Sterblichen einer dir deine Ziegen und Schafe?
Oder würgt man dich selbst, arglistig oder gewaltsam?«
Der Mann, der neun Fahrräder hatte
[16. August 2006]
Es war schon ein merkwürdiger Anblick: über dem rechten Ohr schaute eine Speerspitze aus dem Kopf und über dem linken Ohr der dort abgebrochene Schaft. Ich weiß nicht, wieso der Mann noch lebte. Sie brachten ihn auf einer Trage aus ein paar kleinen Ästen. Er war natürlich bewusstlos. Er hatte nichts mehr zu sagen, er würde nie wieder etwas zu sagen haben.
Moses kannte ihn – wen kennt Moses nicht? Und Mama Chogo kannte ihn auch. Er war aus Kipingo, ihrem Dorf. Er wohnte nur ein paar Häuser weit von ihrem Anwesen entfernt. Magnus hieß er.
Sie hatten ihn erwischt, als er Reis stehlen wollte. Und der Besitzer von dem Reis hatte ihm diesen Speer durch den Kopf gerammt.
Ich erinnere mich an zwei Patienten, die auch mal wegen einer gespaltenen Rübe gebracht worden waren.
Der eine war betrunken gewesen und hatte sich irgendwo unter ein Vordach schlafen legen wollen. Da hatte der Besitzer gedacht, da komme ein Dieb und hatte ihm voll mit dem Buschmesser vor die Stirn gehauen.
Der andere: Ich glaube, den hatte ein Ehemann mit seiner Frau erwischt und das nicht lustig gefunden. Das Buschmesser war von der Nasenwurzel bis durch den Gaumen gefahren. Und wenn man den Gesichtserker vorklappte, konnte man die Mandeln sehen. Ich hatte den Oberkiefer verdrahtet und das Gesicht schichtweise wieder verschlossen. Es blieb nur eine relativ unauffällige Narbe. Die Operation hatte Spaß gemacht.
Aber dem Mann mit dem Speer durch den Kopf konnte ich natürlich nicht helfen. Da konnten wir nur warten, bis er starb.
Alle in Kipingo wussten, dass Magnus ein Dieb war. Man hatte ihn nur nie so recht erwischen können. Kipingo ist ein großes Dorf vielleicht drei Kilometer von Lugala entfernt. Ich weiß nicht, wo genau es in Njassa auf der einen Seite und Nawigo auf der anderen Seite übergeht. In Kipingo hat mal das Krankenhaus gestanden, als es noch ein Krankenhäuschen war. Irgendwo dort, bis es in einer besonders heftigen Regenzeit praktisch weggeschwemmt wurde. Anfang der fünfziger Jahre war das. Und dann wurde es eben in Lugala wieder neu gebaut. Ein kleiner Gedenkstein soll dort stehen. Man sieht es dem Dorf sofort an, dass es ein altes Dorf ist: Überall hohe Mangobäume und alte Ölpalmen. Und man sieht auch, dass es ein reiches Dorf ist: Die meisten Häuser sind aus Ziegelsteinen. Kipingo hat eine Oberschule und natürlich eine Grundschule. Ursprünglich hatte auch ›unser‹ Bischof dort seinen Sitz, bis die Diözese