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      Rime lief ein kalter Schauer über den Rücken. Es fühlte sich wie ein Vorgeschmack auf Draumheim an. Eine kohlrabenschwarze Dunkelheit, die ihn gesehen hatte und nicht wieder loslassen wollte.

      Er schaute Hlosnian an. »Wenn sie also die Gabe während des Rituals durch die Leute ziehen und sie mit Rabenblut markieren …«

      Hlosnian tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Dann können sie die Gabe in eine andere Richtung zwingen. Obwohl ich glaube, dass du die Wirkung überschätzt. Aber die Wege können verkümmern. Oder gesprengt werden. Zu viel oder zu wenig ist beides gleich schlecht.«

      »Und das war es, was Urd auf Bromfjell getan hat? Die Gabe hervorziehen mit Rabenblut?«

      »Ach was!«, schnaubte Hlosnian. »Unsinn! Das hieße, die Türen einzureißen, während man sie öffnet. Es vernichtet dich. Vernichtet andere. Blindwerk, Rime. So was macht man nicht.«

      »Das hat dem Rat aber nie jemand erzählt«, sagte Rime und schaute weg. Er wollte nicht, dass der Steinflüsterer ihm die Enttäuschung ansah. Oder erkannte, wie wichtig es für ihn war, die Rabenringe zu öffnen.

      »Du redest so, als hätten sie gewusst, was sie tun.« Hlosnian lächelte.

      »Alle wissen, was sie tun. Die Frage ist nur, ob sie damit leben können oder nicht.«

      Rime steckte die Ampulle in die Tasche, doch er wusste, dass Hlosnian recht hatte. Nicht einmal Jarladin kannte eine Antwort auf die Frage, ob die Zeichen auf der Stirn eine Wirkung hatten. Sie hatten jahrhundertelang eine Vorschrift befolgt. Unter dem Vorwand, das Volk für die Blinden weniger anziehend zu machen. Und um die Gabenreichen ganz heimlich zu schwächen.

      Aber es spielte keine Rolle, ob es funktionierte oder nicht. Es würde nicht noch einmal passieren, dafür hatte Rime gesorgt.

      Hlosnian starrte auf das Eis, auf sein Spiegelbild. Ihn schien etwas zu bedrücken.

      »Ich habe es selbst genommen, Rime.«

      »Was hast du genommen?«

      »Rabenblut.«

      Rime trat einen Schritt näher. Der Steinflüsterer krümmte den Rücken wie ein Hund. »Ich habe es genommen, nur ein Mal. Und ich bin nicht der Einzige. Es wird vor den Zunfttreffen verkauft. Ich weiß es. Du weißt es. Es steckt Kraft im Blut. Steinflüsterer nehmen es, um die Stimmen besser zu hören, aber das endet immer in einer Katastrophe. Immer.«

      »Was ist also geschehen? Hast du die Quelle der Gabe gefunden? Den Sinn des Lebens?« Rime lächelte, um die Missbilligung in seiner Stimme abzumildern. Es war nichts Neues, dass Leute im Rausch alles Mögliche taten.

      Der Steinflüsterer schaute zu ihm hoch. »Ich wurde nie wieder ganz der Alte. Das ist nichts für uns.«

      »Das ist Opia auch nicht, aber die Leute nehmen es trotzdem«, entgegnete Rime.

      Hlosnian schlug gegen die Kälte die Arme um sich. Blickte über die Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen waren, als bereue er es, dass er so weit gegangen war. »Du siehst mich jetzt mit anderen Augen, stimmts?«

      Die Frage überraschte Rime. Hlosnian kümmerte es sonst wenig, was andere von ihm hielten. Das war fast wie ein Markenzeichen des eigensinnigen Steinflüsterers.

      »Nein«, antwortete Rime und lächelte. »Dass du auf die eine oder andere Weise bekloppt bist, ist schon immer offensichtlich gewesen.«

      »Ach was! Alle sind auf ihre ganz eigene Art bekloppt, Junge.«

      Hlosnian legte Rime eine Hand auf die Schulter. »Rabenblut öffnet die Wege. In dir selbst, aber nicht in den Steinen. Es ist kein Reiseblut«, erklärte er. »Das hat niemand von uns. Ich habe es nicht. Du hast es nicht. Ich bezweifle, dass überhaupt irgendein Lebewesen es hat. Also kommen wir nirgendshin. Aber sie hatte es. Älter als die Sünde, stärker als Rabenblut.«

      »Das stimmt nicht, Hlosnian. Wir sind durch die Tore gekommen, genauso gut wie sie. Es geht nicht um Blut.«

      »Es geht immer um Blut. Wir sind von dieser Welt in diese Welt gereist. Das ist keine lange Strecke. Es ging gut, weil wir hier zu Hause sind. Aber sie … Sie lässt mich vieles hinterfragen.«

      Rime spürte, dass die Luft kälter wurde. Hatte er das Problem von der falschen Seite betrachtet? Vielleicht gab es nichts, was die Gabe bei den Steinen stärker machen konnte. Musste er sich selbst vielleicht stärker machen?

      Er sah den Steinflüsterer an. »Du irrst dich in einem Punkt, Hlosnian.«

      »In den meisten Dingen, hoffe ich. Woran denkst du?«

      »Wenn es so was wie Reiseblut gibt, dann ist sie nicht die Einzige, die es hat. Die Blinden hatten es auch.«

      »Du grübelst zu viel, Junge. Können wir jetzt zurückgehen, bevor ich mir den Schwanz abfriere?«

      Hlosnian wandte sich zum Gehen. Sein Umhang schleifte durch den Schnee. Die Schneekristalle funkelten auf dem schäbigen Saum.

      Rime guckte ins Vogelbecken und sah sein eigenes Gesicht, im Eis eingefroren. Er war blass wie ein Blinder.

      Die offene Kirche

      Hirka fuhr zusammen. Fast wäre sie eingeschlafen.

      Das lag am Ventilator über der Tür. Sein sachtes Surren war einschläfernd.

      Sie schaute zu dem Blinden, der auf einem Stapel aus Säcken mit Erde lag. Sie hatte ihr Ersatzstrickhemd über ihn gebreitet. Nicht, weil sie dachte, dass er fror, aber … Hätte sie dort nackt gelegen, dann wäre sie froh gewesen, wenn jemand sie zugedeckt hätte.

      Sein Körper zuckte nicht mehr und er atmete ruhiger, zum Glück.

       Zum Glück? Er war Nábyrn!

      Sie zog die Knie an und lehnte den Kopf an die Wand. Hier drinnen war sie von Pflanzen umgeben, deren Namen sie nicht kannte. Grüne Sprösslinge standen in Töpfen überall auf den Bänken und Tischen. Blumen hingen in Tonkruken von der Decke. Es sah aus wie in einem sommerlich wuchernden Wald. Aber draußen war die Welt weiß. Nasse Schneeklumpen peitschten gegen die Fenster, schmolzen beim Hinabrutschen und türmten sich unten auf der Erde zu Matschhaufen auf. Sie saß in zwei Welten gleichzeitig. In einer, in der Dinge geboren wurden, und in einer anderen, in der Dinge starben. Sie war sich bloß nicht ganz sicher, was das eine und was das andere war.

      Es war gut, dass es dunkel war. Das war für sie ein Vorteil, da hatte sie alles im Griff. Sie wusste, dass sie alles, was draußen war, besser sah, als sie selbst gesehen wurde. Niemand konnte sich an sie heranschleichen. Sie schluckte. Erinnerte sich an die Hände des Mannes um ihren Hals. An die Verzweiflung, nichts zu begreifen. Aber er hatte bekommen, was er haben wollte. Er war jetzt bestimmt schon über alle Berge. Wen hatte sie dann gesehen, bevor sie herkam? Wer hatte sie verfolgt? Das mochte der Seher wissen.

      Der Seher

      Hirka setzte sich auf und starrte den Blinden an. Alles, was sie über den Seher gehört hatte, wirbelte ihr durch den Kopf. Ein Durcheinander aus Wörtern und Bildern. Er war der Blinde, der seinen eigenen Leuten den Rücken zugekehrt hatte, um Ymsland zu retten. Er nahm die Gestalt des Raben an. Der Seher, den man tausend Jahre lang angebetet hatte. Der Seher, den es nicht gab. Hatte sie nicht genau das geschehen sehen? Kuro hatte seine Gestalt geändert. Vom Raben zum Blinden.

       Unsinn! Sieht er etwa wie ein Gott aus?

      Hirka krabbelte zu dem Mann. Sie hob die Hand, um ihn mit einem Finger zu piksen. Überlegte es sich aber anders und zog sie zurück. Das war gefährlich. Er war nicht mehr so geschwächt. Sie nahm eine kleine Pflanzschaufel für den Fall, dass er aufwachen sollte. Seine Haare rochen säuerlich nach Rabenblut. Er hatte mehrere geplatzte Adern am Schlüsselbein. Sie breiteten sich wie

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