Скачать книгу

und des Gottesdienstbesuches in den letzten Jahren erklären 2010 immer noch 59 %, dass ihnen Glaube sehr wichtig ist, und 62 % der Befragten, dass es einen Gott gibt. Über ein Drittel der Amerikaner besucht wöchentlich einen Gottesdienst.14 Der Religionswissenschaftler Michael Bergunder fasst es so zusammen: »Die hohen Werte bei der Erfragung von religiösen Überzeugungen und kirchlich-rituellen Praktiken zeigen, dass sich eine innere Säkularisierung empirisch nicht nachweisen lässt. Wenn sich Religion und Moderne nicht vertragen, müssten in den USA, der führenden Industrienation, besonders deutliche Säkularisierungstendenzen sichtbar werden. Dies ist aber nicht der Fall.«15 Allerdings deuten sich inzwischen auch in den USA Säkularisierungstendenzen an. Das ist für Religionssoziologen wie Detlef Pollack ein Indiz dafür, grundsätzlich an der Säkularisierungsthese, wenn auch in veränderter Form, festzuhalten. Wir gehen im nächsten Kapitel noch einmal auf die USA ein.

      In diesem Kapitel haben wir uns mit der Fragestellung befasst, ob Säkularisierung ein globales Phänomen ist. Dabei haben wir den Fokus vor allem auf das Christentum gelegt. Das weltweite religiöse Erwachen aber kann man auch im Islam, Buddhismus, Hinduismus, in den Stammesreligionen, esoterischen und New-Age-Kulten etc. beobachten. Auch hier verhalten sich Modernisierung der Gesellschaft und Säkularisierung eher umgekehrt proportional. Das sind auch die Forschungsergebnisse der in Havard und Oxford lehrenden Politologin Monica Toft. In ihrem 2012 erschienenen Buch »God’s Century« kündigt die amerikanische Wissenschaftlerin die machtvolle Rückkehr von Religion in die Weltpolitik an. Gottes Jahrhundert ist angebrochen. Auch der Westen wird von diesem Trend erfasst werden. Sie benennt drei Faktoren, die für den Aufstieg von Religion verantwortlich sind: Modernisierung, Demokratisierung und Globalisierung. Das sind die gesellschaftsformierenden Kräfte, die gemäß der Säkularisierungsthese den umgekehrten Effekt haben müssten.16

       2.2 GRÜNDE FÜR DAS WELTWEITE BOOMEN VON RELIGION

      Mir begegnet bei vielen durchaus gescheiten Leuten eine unglaubliche Unkenntnis über das globale Erstarken von Religion. Das Phänomen, dass es weltweit ein religiöses Erwachen gibt, nimmt man in Deutschland höchstens beim Islam wahr. Das ist durch den weltweiten islamistischen Terror, der nun auch in Europa angekommen ist, unvermeidlich. Aber dass Religion allgemein und speziell auch das Christentum weltweit in einer atemberaubenden Dynamik an Bedeutung gewinnt, haben viele unserer europäischen Zeitgenossen noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Für sie ist die alte Säkularisierungsthese vom Rückgang der Religion mit dem Grad der Modernisierung eine gegebene Tatsache, die sie als unreflektierte Überzeugung verinnerlicht haben. Wenn sie aber mit der Realität einer weltweiten Renaissance von Religion in Berührung kommen, dann reiben sie sich verwundert die Augen und fragen nach den Gründen. Woran liegt es eigentlich, dass in globaler Perspektive Religion »in« ist? Was führt zu ihrem Erstarken? Welche Bedingungen machen Religion attraktiv? Die publizistische und religionssoziologische Landschaft zu diesem Thema ist reich und unübersichtlich. Hier soll versucht werden, die wichtigsten und vielleicht einleuchtendsten Gründe aufzuzeigen.

      Enttäuschte Hoffnungen

      Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welche euphorischen Hoffnungen einst mit der Modernisierung der Gesellschaft verknüpft waren. Industrialisierung, Wissenschaft, Bildung, Demokratisierung und technologischer Fortschritt sollten endlich Armut, Aberglaube, Krankheit, Hunger, Abhängigkeit und Unterdrückung für immer beseitigen. Man erblickte schon die Morgendämmerung einer neuen Welt, in der der Mensch frei, gesund, gebildet, wohlhabend, selbstbestimmt und religionsfrei lebt. John Lennons »Imagine« von 1971 war die Hymne dieser Hoffnung: »Nothing to kill or die for. And no religion, too. Imagine no possessions. No need for greed or hunger. A brotherhood of man.«

      Doch das 20. Jahrhundert als das Zeitalter, in dem neue säkulare Ideen das Antlitz der Erde positiv verändern sollten, ist gleichzeitig eine Epoche der grausamsten Szenarien, welche dieser Planet je gesehen hat: Kriege mit Millionen Toten, millionenfacher Massenmord an Völkern und Menschengruppen, brutalste Unterdrückung durch religionsfeindliche Weltanschauungen. Die Idee, dass eine religionsfreie Welt eine bessere sei, hat sich als tragische Illusion erwiesen. Der Publizist und Gründer des Politmagazins »Cicero« Wolfram Weimer nennt in seinem Büchlein »Credo« das Versagen säkularer Ideen als auslösenden Faktor für das Comeback von Religion in das Bewusstsein der Weltbevölkerung. »Das Europa des 20. Jahrhunderts hat die Welt gelehrt, dass ohne Gott die politischen Katastrophen noch teuflischer geworden sind.«17 »Die kulturelle und intellektuelle Pervertierung des Fortschrittsglaubens in entgöttlichten, radikal-diesseitigen Ideologien beendete, zunächst unbewusst, zunehmend dann auch reflektiert den Säkularisierungsprozess, weil dieser seine moralische Integrität verloren hatte.«18

      Das Pendel schlägt vom Atheismus als destruktive Leitidee zurück zur Religion. Im intellektuellen Diskurs wird das Thema Religion wieder hoffähig. Jürgen Habermas – für viele der bedeutendste Philosoph der Gegenwart – schreibt, »dass einer zerknirschten Moderne nur noch die religiöse Ausrichtung auf einen transzendenten Bezugspunkt aus der Sackgasse verhelfen kann«19. Der atheistische Materialismus der säkularen Moderne ist ein zu enger Rahmen, um unsere komplexe und widersprüchliche Welt philosophisch zu beschreiben.

      Religion als Motor für positive gesellschaftliche Transformationsprozesse

      Die Rolle der Kirchen in der Vergangenheit war im Hinblick auf den Umgang mit Diktaturen, Menschenrechten, Rassismus, Sklaverei, Antisemitismus oft widersprüchlich, ja mitunter ausgesprochen problematisch. Das Sündenregister der christlichen Kirchen ist lang. Sie gerieten in den Ruf, Modernisierungsverweigerer zu sein, Diktaturen zu unterstützen, Antisemitismus zu fördern, Rassismus zu tolerieren und patriarchalische Herrschaftsformen zu stützen. Auch der deutsche Protestantismus trat in seiner dunkelsten Ära für rassistische Positionen und Praktiken ein.

      Die katholische Kirche widersetzte sich lange der Moderne, betrachtete den religiösen Pluralismus als Feind, war überskeptisch gegenüber den modernen Wissenschaften und nahm in Menschenrechtsfragen eine unklare Position ein. Es kam vor, dass die Kirche auf der Seite von Diktatoren stand, wie das anscheinend in Argentinien der Fall war. Erst das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1966) brachte eine völlige Neuorientierung, durch welche die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, dass die katholische Kirche in der Folge weltweit zu einer Kraft zivilgesellschaftlicher Demokratisierung wurde. Zum Ende des 20. Jahrhunderts erleben wir das Engagement der Kirchen für die Armen, Unterdrückten, Ungebildeten und Ausgegrenzten. Katholische Bischöfe spielen eine fördernde und entscheidende Rolle in den Freiheitsbewegungen Lateinamerikas. Der Erzbischof von San Salvador Oscar Romero trat vehement für soziale und politische Reformen ein und bezahlte seine Opposition zur damaligen Militärdiktatur mit dem Leben. Er gilt als ein führender Vertreter der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die sich für soziale Gerechtigkeit und eine Umgestaltung der Gesellschaft aus dem Geist des Evangeliums engagiert. Der Vatikan beobachtete die katholischen Befreiungsbewegungen mit Skepsis, weil er kommunistische Ideen als eigentliche Antriebskraft dahinter vermutete.

      Der polnische Papst Johannes Paul II. hat in den 1980er Jahren die Menschen zum Widerstand gegen kommunistische Unrechtsdiktaturen angestiftet und damit eine Freiheits- und Demokratiebewegung im damaligen Ostblock mit ausgelöst.20 Die Geschichte der Friedlichen Revolution von 1989 in der DDR belegt die friedensstiftende Kraft und Kreativität der christlichen Religion. Die sogenannte Wende wurde in den Kirchen des Landes geboren. Zu Tausenden versammelten sich die Menschen dort, beteten, diskutierten und hörten das Evangelium des Friedens. Dann zogen sie mit Kerzen auf die Straße, um für Freiheit und für ein Ende des DDR-Regimes zu demonstrieren.21

      Erzbischof Desmond Tutus Engagement für Versöhnung und die Rechte der schwarzen Südafrikaner geschah mit einer eindeutig religiösen Motivation. Nach Monica Toft haben seit den 1970er Jahren religiöse Akteure in den großen politischen Umbruchbewegungen in 63 % der Fälle die Demokratisierung vorangetrieben. Sie nennt viele globale Beispiele, wie es dem religiösen Einfluss zu danken ist, zu Modernisierung, Demokratisierung und wirtschaftlichem Fortschritt einen entscheidenden Beitrag geleistet zu haben. Sie schreibt: »Die letzten

Скачать книгу