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Toxische Männlichkeit. Sebastian Tippe
Читать онлайн.Название Toxische Männlichkeit
Год выпуска 0
isbn 9783949104046
Автор произведения Sebastian Tippe
Издательство Bookwire
Anmerkung: Viele Männer ermorden ihre Ex-Partnerin, da sie es nicht ertragen, dass sich ihre ehemalige Partnerin von ihnen getrennt hat – nach der Devise: „Es wird sich nicht von Männern getrennt, sondern Männer trennen sich von Frauen.“ Männliche Geschlechtervorstellungen spielen hierbei eine große Rolle: Männer müssen die Macht in allen Lebensbereichen, so auch in der Partnerschaft und Familie innehaben. Sie entscheiden, ob und wann eine Beziehung vorbei ist. Trennen sich Frauen von ihrem Partner, kollidiert dies mit dem „männlichen Kontrollanspruch“, was in den schlimmsten Fällen darin endet, dass Männer ihre Ex-Partnerin ermorden – nach dem Motto: „Wenn ich sie nicht haben kann, dann darf sie auch niemand anderes haben.“
All dies sind dann Fälle, die in der Presse als Familiendrama oder Beziehungstat deklariert werden, um patriarchale Strukturen und Gewalt an Frauen zu verschleiern und zu verharmlosen. Im Januar 2020 wurde verkündet, dass die Deutsche Presse-Agentur (DPA) verharmlosende Begriffe, die den Opfern eine Mitschuld suggerieren, nicht mehr verwenden wird: Darunter fallen die Begriffe Beziehungsdrama, Familientragödie, Familiendrama und Ehetragödie. Froben Homburger (DPA-Nachrichtenchef) twitterte (Frauensicht.CH 2020): „Drama und Tragödie rücken Mord und Totschlag in die Nähe eines schicksalhaften Geschehens, in dem Opfer- und Täterrolle zu verschwimmen scheinen: Ist der Täter nicht auch irgendwie Opfer (etwa einer zerrütteten Beziehung) – und hat das Opfer daher nicht auch Anteil an der Tat?“ Auch Begriffe wie Sex-Täter oder Sex-Attacken werden verboten, da durch die Verwendung dieser Begriffe vermittelt wird, dass sexualisierte Gewalt etwas mit Sex und natürlichen Bedürfnissen zu tun habe, wodurch verschleiert wird, dass es sich dabei um Gewalt handelt. Es stellt sich die Frage, was ein „Sextäter“ getan hat? Hat er Sex gehabt? Es wird deutlich, dass die Gewalt an Frauen durch derartige Formulierungen unsichtbar gemacht wird.
Ein weiterer Aspekt, der die Täter bei Gewalt gegen Frauen unsichtbar macht, ist die Verwendung des Passivs: Es wird in den Medien geschrieben, dass Frauen von Männern getötet, angegriffen oder vergewaltigt werden – jedoch nicht, dass Männer Frauen getötet, angegriffen oder vergewaltigt haben. Die Täterschaft wird durch das Passiv relativiert und heruntergespielt – die Wirkung auf Lesende ist eine andere als bei der Verwendung des Aktivs.
Sexuelle Gewalt
Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (vgl. 2004, S. 29) wurde fast jede siebte Frau (13 %) in Deutschland bereits vergewaltigt, hat eine versuchte Vergewaltigung erlebt oder sexuelle Nötigung – einige davon mehrfach. 40 % der befragten Frauen gaben an, sexuelle oder körperliche Gewalt seit ihrem 16. Lebensjahr erfahren zu haben, 58 % sexuelle Belästigung, 42 % psychische Gewalt und 25 % körperliche oder sexuelle Gewalt (oder beides) durch den aktuellen oder Ex-Partner. Täter bei sexueller Gewalt sind bis zu 99 % männlich und weniger als 1 % weiblich, bei sexueller Belästigung sind 97 % männlich und 2 % weiblich (vgl. TERRE DES FEMMES b). 94 % aller Vergewaltigungsopfer sind Mädchen oder Frauen (vgl. Britzelmeier 2016). Die vermeintlich hohen Zahlen von Falschbeschuldigungen liegen gerade einmal bei 3 % (vgl. TERRE DES FEMMES b).
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (vgl. 2018a) konstatiert, dass bei Vergewaltigungen und sexueller Nötigung in Partnerschaften die Opfer zu fast 100 % Frauen sind. Amnesty International kommt zu dem Ergebnis, dass jede fünfte Frau körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt hat (vgl. Van Aaken 2001). Davon angezeigt wird aber laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (vgl. 2004, S. 19) nur ein Bruchteil – in Deutschland beträgt die Zahl der Anzeigen gerade einmal 8 %. Da viele Frauen mehrfach vergewaltigt werden, bedeutet dies, dass weniger als 5 % aller Sexualstraftaten überhaupt angezeigt werden, nur jede 13. der überhaupt bekannten und angezeigten Vergewaltigungen endet mit einer Verurteilung (vgl. TERRE DES FEMMES b). Das sind weniger als 1 %. Bei einer EU-Umfrage sagten 77 % der Befragten aus, dass der Täter kein Unbekannter gewesen war (vgl. Britzelmeier 2016).
Das Ausmaß ist viel höher
Diese Zahlen spiegeln bei Weitem nicht das wirkliche Ausmaß der (sexuellen) Gewalt gegen Frauen wider. Es fehlen Vergewaltigungen im Kontext von Prostitution, von Pornografie sowie von Gewalt unter der Geburt. Es fehlen Situationen, die beispielsweise durch K.-o.-Tropfen oder unter Narkose herbeigeführt wurden und die im Nachhinein für Frauen oftmals gar nicht einordbar sind, da sie sich nicht richtig an das Erlebte erinnern können. Auch fehlen detaillierte Erinnerungen an Missbrauchserfahrungen aus der Kindheit, die meist weitestgehend abgespalten wurden. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 in Deutschland als Straftatbestand eingestuft wird und 2004 (!) den rechtlichen Status des Offizialdelikts2 erhielt (vgl. Mundlos 2013, S. 176). Viele ältere Generationen von Frauen sind damit aufgewachsen, dass sie „eheliche sexuelle Pflichten“ zu erfüllen hätten und ordnen dies bei Befragungen auch dementsprechend ein. Geprägt durch Pornografie ist das heutige Sexualleben viel gewalttätiger als noch vor 20 Jahren. Junge Mädchen berichten, dass Analsex, Cumshots3 oder Deep Throats4 beispielsweise zum „Standard-Programm“ gehören und von ihnen erwartet werden. Ebenso, dass Frauen von Männern gewürgt werden oder dass Männer, ohne dass Frauen dies wissen, kurz vor dem Samenerguss heimlich das Kondom abziehen (Stealthing). All diese Formen von sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen sind nicht in den Befragungen und Fragebögen berücksichtigt. Die Soziologin Mundlos schlägt vor, dass Frauen am Ende ihres Lebens unter Berücksichtigung einer eindeutigen Definition von sexueller Gewalt befragt werden. Die Definition muss den Frauen vorher mitgeteilt werden. So kann ein valides Ergebnis erzielt werden. Nur dann ist es möglich, tatsächliche Zahlen zu sexueller Gewalt zu erheben.
Abschließend ist anzumerken, dass auch die Zahlen zu sexueller Belästigung fragwürdig sind. Es wird keine Frau geben, die noch keine sexuelle Belästigung und keinen Sexismus erlebt hat. Das wäre ungefähr so, als wenn behauptet würde, dass nur ein gewisser Prozentsatz Schwarzer Menschen Rassismus erfahren hätte.
Gewalt in der Corona-Krise
Die Professorin für Global Health der technischen Universität München (TUM) Janina Steinert und die Doktorin Cara Ebert vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung führten im Kontext der Corona-Krise vom 22. 04. – 08. 05. 2020 bezüglich des Vormonats (Zeitraum der strengsten Kontaktbeschränkungen) eine repräsentative Online-Befragung mit 3.800 Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren durch und kamen zu folgenden Ergebnissen: 3,1 % der befragten Frauen gaben an, mindestens einmal körperliche Gewalt durch beispielsweise Schläge erlebt zu haben, es gab in 6,5 % der Haushalte körperliche Bestrafungen der Kindern, 3,6 % der Frauen gaben an, vergewaltigt worden zu sein, 3,8 % der Frauen berichteten, von ihrem Partner bedroht worden zu sein, 2,2 % der Frauen durften nicht ohne die Erlaubnis des Partners das Haus verlassen, bei 4,6 % der Frauen regulierten die Partner ihre sozialen Kontakte – auch online (vgl. Ebert/Steinert 2020). Erschreckend ist, dass diese Zahlen die Ergebnisse von nur einem einzigen Monat sind! Zudem zeigt es die Dimensionen toxischer Männlichkeit. Um das Ausmaß der Zahlen zu verdeutlichen: Wenn die Vergewaltigungszahlen auf 12 Monate hochgerechnet werden, würde das unter den Corona-Umständen bedeuten, dass innerhalb eines Jahres 43,2 % aller Frauen, also fast jede 2. Frau, vergewaltigt wurde. Wenn sich Familien in Quarantäne befanden, erfuhren 7,5