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Der Islam. Malise Ruthven
Читать онлайн.Название Der Islam
Год выпуска 0
isbn 9783159618050
Автор произведения Malise Ruthven
Жанр Религия: прочее
Издательство Bookwire
Keine Religion könnte nicht nur überleben, sondern blühen und gedeihen, wie das der Islam bis in unsere Zeiten getan hat, wenn sie nur durch die äußerlichen oder allgemein verständlichen Formen der strikten Einhaltung ihrer Regeln zusammengehalten würde. Der Islam enthält im gleichen Maße wie andere moderne und erfolgreiche Religionen ein reiches Repertoire der verschiedensten Konzepte, Symbole und geistlichen Disziplinen, mit deren Hilfe Gläubige ihre Identität behaupten und sich das Gefühl bewahren können, in der Welt zu sein und zugleich Kontakt zu Gott zu halten. Wenn viele Muslime sich heute einer Adaptionskrise an die Wirklichkeit der modernen Welt gegenübersehen, so liegt das nicht an einem dem Islam notwendig innewohnenden Mangel an Flexibilität auf dem Gebiet der Ideen. Im Laufe seiner Geschichte hat der Islam eine enorme Anpassungsfähigkeit bewiesen, als es darum ging, verschiedene kulturelle Systeme seinem Rahmen einzupassen: die abrahamische Religionsfamilie des westasiatischen Monotheismus, zu der neben dem Islam das Judentum sowie das Christentum gehören.
Die Krise des modernen Islam – und kaum jemand würde bestreiten wollen, dass es diese Krise gibt – ist nicht so sehr eine »geistige Krise« als vielmehr eine Krise der Autorität, und zwar [28]in politischer, intellektueller, rechtlicher wie auch geistiger Hinsicht. Das »beste Gemeinwesen«, von Gott zu dem Zwecke geweiht, »einzufordern, was richtig, und zu verbieten, was falsch ist« (ein Gemeinwesen, das seit Jahrhunderten ohne Einmischung von außen erfolgreich die eigenen Angelegenheiten regelt), verlangt nach Führerschaft. Außerhalb der Tradition der schiitischen Minderheit ist jedoch von einer Führung mit breitem Rückhalt unter den Gläubigen auffallend wenig zu sehen.
Institutionalisierte Führerschaft
Im Islam gibt es keine »Kirche« im Sinne einer förmlich eingesetzten Körperschaft zur Festlegung und Überwachung der religiösen Regeln, die eine »offizielle« islamische Position zum Ausdruck bringen könnte, wie das etwa das Papsttum oder die ernannte beziehungsweise gewählte Führung protestantischer Glaubensgemeinschaften tut. Mit dem Zusammenbruch des islamischen Vielvölkerstaats, der nach dem Tode des Propheten Muhammad gerade einmal zweihundert Jahre Bestand hatte, wurde die religiöse Autorität der ‘ulama (Sg.: ‘alim ›Gelehrter‹) anvertraut, einer Klasse von Schriftgelehrten, deren Rolle als Hüter und Deuter der Tradition der Funktion der Rabbiner im Judentum viel näher steht als der Rolle der christlichen Priesterschaft. Sie übten keine politische Macht aus, sondern bremsten die Macht der Herrscher, der Sultane (»oberste Instanzen«) und Emire (»Befehlshaber«), die meist durch Waffengewalt an die Macht gelangt waren. Die Gelehrten legten das göttliche Gesetz aus und wandten es an, wobei sie sich des komplexen Regelwerkes bedienten, das in den Akademien entwickelt worden war. Die berühmteste dieser Lehranstalten, Al-Azhar in Kairo, wurde im Jahre 971 gegründet und erhebt den Anspruch, die älteste Universität der Welt zu sein. Obwohl ihr Rektor, der Shaik al-Azhar, innerhalb der sunnitischen ‘ulama eine herausragende [29]Stellung einnimmt, sind seine Urteile für die anderen Gelehrten nicht bindend. Entsprechend ernennen zwar alle muslimischen Regierungen einen offiziellen Mufti, einen ‘alim mit der Befugnis, zu verschiedenen Punkten juristische Urteile abzugeben, doch haben seine Stellungnahmen lediglich beratende Qualität, soweit sie nicht durch den Gerichtsentscheid eines qadi, eines Richters, wirksam werden. Da es der Herrscher ist, der den Richter ernennt, steht zwar die Durchsetzung des Religionsgesetzes unter staatlicher Kontrolle, nicht jedoch seine Auslegung. Die Programme zur Massenbildung, die von den meisten postkolonialen Regierungen aufgelegt wurden, haben in dem Maße für die ‘ulama zu einem Verlust an Ansehen und Autorität geführt, wie Universitätsabsolventen mit einem zumeist säkularen Bildungshintergrund zu eigenen Interpretationen der heiligen Texte des Islam gelangten und damit die traditionelle Lehre und ihr Schrifttum einfach umgingen. Demgegenüber kann es in den Ländern, die den Einflüssen der Moderne seit jeher weniger ausgesetzt waren (wie zum Beispiel in Afghanistan oder den ländlichen Gegenden Pakistans), vorkommen, dass die gesamte oder einzelne aufstrebende ‘ulama versuchen, Macht unmittelbar selbst auszuüben, ohne sich um die komplexen Realitäten der modernen Welt zu scheren. In beiden Fällen ist die Krise der intellektuellen Autorität dieselbe: Die auf traditionelle Weise ausgebildeten ‘ulama haben es nicht geschafft, zeitgenössische modernistische oder reformistische Denkansätze in ihren Diskurs zu integrieren. Wenn Aktivisten heute versuchen, ihre Gesellschaften zu »islamisieren« und sie stärker auf eine Linie mit dem zu bringen, was sie unter dem islamischen Gesetz verstehen, ignorieren sie Hunderte von Jahren ausgewiesener und genauestens nuancierter Gelehrsamkeit, mit deren Hilfe die ‘ulama versucht haben, zwischen den Forderungen des göttlichen Gesetzes und den Realitäten politischer Macht sowie den Erfordernissen des täglichen Lebens zu vermitteln.
[30]Modernisierung des Rechts
Die These von einer bedenklichen Kluft zwischen den Postulaten des islamischen Gesetzes und der tatsächlichen Rechtspraxis in den meisten Staaten mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit ist möglicherweise eher eine Frage der Wahrnehmung als eine Beschreibung der Wirklichkeit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der bedeutendste Jurist Ägyptens, ‘Abdul Razzaq Sanhuri, große Anstrengungen unternommen, das islamische Gesetz mit den westlichen Rechtssystemen in Einklang zu bringen, die unter den kolonialen