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verrückt über den Himmel jagten, und verbreitete ein unirdisches Licht. Undeutlich sah ich die Baumgruppen auf den Koppeln und die Büsche am Wegrand, die sich unter dem Ansturm des Windes bogen. Die Wälder waren wie ein dunkles Meer, das sich in starker Brandung aufbäumt und wieder glättet.

      Am nächsten Morgen waren Wege und Wiesen mit Blättern, Zweigen und Aststücken bedeckt. Der Wind hatte nachgelassen, doch die Pferde waren unruhig nach dieser stürmischen Nacht. Sie empfingen uns mit rebellischem Gewieher, während sie sonst um diese frühe Morgenstunde noch dösten und uns verschlafen entgegensahen, wenn wir die Stalltür öffneten und Licht machten.

      „Der Sturm hat sie erschreckt“, sagte Jörn. „Sie mögen’s nicht, wenn es um den Stall herum so heult und poltert. Komischerweise macht es ihnen nicht so viel aus, wenn sie auf der Weide sind – wahrscheinlich, weil sie dann sehen, was passiert, und den Sturm miterleben. Im Stall wissen sie nicht, was draußen los ist; und wenn eins von den Pferden Angst kriegt, drehen die anderen natürlich mit durch.“

      Hazel war so aufgeregt, daß sie kaum fressen wollte, was bei ihr selten vorkam. Ich pusselte an diesem Morgen besonders lang mit ihr herum, obwohl ich eigentlich keine Zeit mehr hatte; in dreißig Minuten fuhr in Mariabrunn der Bus los, und ich hatte noch nicht geduscht.

      Matty und Jörn hatten den Stall schon verlassen, während ich noch immer bei Hazel stand, bis Maja sagte: „Wenn du dich nicht beeilst, schaffst du den Bus nicht, Nell.“

      Ich streichelte Hazel ein letztes Mal. „Ich weiß, aber ich wollte nicht gehen, ehe sie sich beruhigt hat. Schaust du später noch mal nach ihr?“

      „Klar“, sagte Maja. „Mach dir keine Sorgen.“

      Ich raste nach Hause und sprang dabei wie ein Känguruh über die herabgefallenen Holzstücke. Diesmal mußte eine Katzenwäsche genügen, obwohl ich wußte, daß gewisse Leute in der Schule wieder die Nase rümpfen und mich „Pferdeapfel“ nennen würden; ein Spitzname, der mir schon lange anhing. Carmen nannten sie „Schweinehirtin“, aber sie lachte nur darüber und meinte, es gäbe Schlimmeres. „Man kann machen, was man will, nach Stall riecht man sowieso und merkt’s selber gar nicht mehr“, sagte sie. „Und was ist schon dabei?“

      Mit einer Hand griff ich nach meinem alten Trenchcoat, mit der anderen nach dem belegten Brot, das Kirsty mir reichte, küßte Kathrinchen auf die marmeladenbeschmierte Nasenspitze und stürmte hinaus, um mein Fahrrad aus dem Schuppen zu zerren.

      Zu allem Überfluß konnte ich an diesem Morgen nicht so schnell radeln wie sonst, weil ich den Holzstücken auf dem Weg ausweichen mußte. Als ich die Hauptstraße von Mariabrunn erreichte, war es fünf nach sieben; doch der Bus stand wie durch ein Wunder noch vor der Gastwirtschaft. Ich schleuderte mein Fahrrad in den Graben, raste über die Straße und hechtete in den Bus.

      Der Fahrer schüttelte tadelnd den Kopf und murmelte etwas von „höchster Eisenbahn“. Dann startete er mit einem solchen Ruck, daß ich sehr plötzlich zwischen Jörn und Matty auf den Sitz plumpste. Hinter uns saß Carmen und rief: „Lange hätten wir ihn nicht mehr aufhalten können. Was hast du gemacht? Bist du im Stall gesessen und hast Hazel den Huf gehalten?“ Obwohl ich kaum Luft bekam, mußte ich lachen. „So ungefähr. Herrje, jetzt hab ich mein Referat vergessen!“

      „Bloß keine Panik“, sage Jörn. „Es gibt Schlimmeres.“

      „Möglicherweise, obwohl mir gerade nichts einfällt“, erwiderte ich. „Unser Deutschlehrer kann so verdammt ironisch sein, daß man sich wie der letzte Idiot vorkommt.“

      „Vielleicht ist er ja krank“, meinte Carmen aufmunternd. „Er hat gestern so blaß ausgeschaut. Du weißt doch, wenn Föhn ist, kriegt er meistens seine Migräne.“

      Auf dem ganzen Weg zur Schule schickte ich Stoßgebete zum Himmel, daß Dr. Schmidkunz wirklich mit Migräne darniederlag. Und ich hatte Glück: In der dritten Stunde erschien eine junge Lehrerin, die erst seit kurzem an unserer Schule war, um die Deutschstunde in Vertretung abzuhalten. Von den beiden Referaten, die für diesen Tag angesetzt waren, wußte sie nichts.

      Gegen Mittag legte sich der Wind. Als wir die Schule verließen, war der Himmel blankgefegt bis auf ein paar pastellfarbene Wolkenstreifen. Der Föhn hatte schwüle Wärme mitgebracht; plötzlich war die Sonne wieder voller Kraft und tauchte alles in blendendes Licht. Es war, als wäre der Sommer für kurze Zeit zurückgekehrt. Ich fühlte mich glücklich und beschwingt, als ich mit dem Bus nach Hause fuhr – allein diesmal, denn Carmen mußte zur Trompetenstunde, und Matty hatte heute noch Nachmittagsunterricht.

      Die Pferde hatten die Schrecken der stürmischen Nacht vergessen und grasten friedlich, als ich nach dem Mittagessen den Pfad zwischen den Koppeln entlangging. Hazel stand bei den Erlenbüschen am Bach und kam den Hang herauf, um mich zu begrüßen. Die Sonne glänzte auf ihrem haselnußbraunen Fell, und ich merkte, daß es dichter und stärker geworden war; sie bekam ihr Winterhaar. Vroni, Eileen und Jule folgten ihr, und ich verteilte die mitgebrachten Äpfel unter ihnen. Unten bei den Jährlingen reparierten Mikesch und Sepp den Koppelzaun, und im Innenhof war Helge damit beschäftigt, das Sattelzeug zu reparieren.

      „Reitest du?“ fragte er, als ich Hazel an ihm vorbei zur Stalltür führte.

      Ich nickte. „Nur ein kurzes Stück, und nur über die Felder. Im Wald liegt heute sicher eine Menge Holz herum.“

      Maja hatte ein halbes Dutzend Satteldecken gewaschen. Sie hingen zum Trocknen über dem Balkongeländer des Gesindehauses. Hopfi erschien mit ihrem Staubtuch an einem Fenster und schrie, wir sollten endlich den Innenhof kehren, und Helge murmelte etwas wie „alte Hexe“, während ich mich schleunigst in den Stall verzog, um Hazel zu satteln.

      Wir ritten auf Traktorwegen zwischen abgeernteten Feldern dahin und dann ein Stück am Mühlbach entlang. Aus den Wäldern klang das Geräusch der Säge herüber, unterbrochen von Axtschlägen; vereinzelt hörte man auch einen Schuß, denn die Herbstjagd war freigegeben.

      Ich versuchte, nicht an die Tiere zu denken, die jetzt wieder ihr Leben lassen mußten. In diesem Jahr erschien mir das Töten besonders sinnlos, denn es war allgemein bekannt, daß die wildlebenden Tiere durch das Grünfutter derart radioaktiv verseucht waren, daß es gefährlich war, ihr Fleisch zu essen. Trotzdem wurden auch in diesem Jahr wieder die üblichen Treibjagden abgehalten, an denen Jäger und Bauern teilnahmen. An solchen Tagen ritten wir nicht aus. Zu oft hörte man von Jagdunfällen, und ich wurde den Verdacht nicht los, daß es Leute gab, die auf alles schossen, was sich bewegte – warum nicht auch auf Pferde? Gesine hatte von einer Freundin, die in Italien lebte, die Geschichte von einem Sonntagsjäger gehört, der seinen eigenen Bruder bei einer Treibjagd „erlegt“ hatte.

      Die merkwürdige Lust am Töten hatte ich nie verstehen können – und seit ich auf dem Land so eng mit Tieren zusammenlebte, begriff ich noch viel weniger, wie ein Mensch Freude daran haben konnte, ein harmloses, unschuldiges Geschöpf umzubringen.

      „Menschen sind seltsam, Hazel“, sagte ich. „Manchmal ist’s verteufelt schwer, sie zu verstehen.“

      Wir kamen an einem einsamen Hof vorbei, wo ein großer schwarzer Hund wie verrückt bellte und im Kreis herumlief, soweit es seine Kette erlaubte. Er fletschte die Zähne wie ein Werwolf, so voll wütender Verzweiflung, daß Hazel Angst bekam und zurückwich. Ich mußte ihr mehrere Minuten lang gut Zureden, um zu verhindern, daß sie umkehrte und nach Hause galoppierte.

      „Der arme Kerl ist doch angebunden“, sagte ich. „Er kann uns nichts tun. Hab keine Angst.“ Und dabei dachte ich, daß der Hund wohl nur deshalb so angriffslustig war, weil er an der Kette lag. Schaudernd stellte ich mir vor, wie es sein mußte, Tag für Tag auf einem öden Hofplatz gefangen zu sein, bis sich die Sehnsucht nach Freiheit und Bewegung schließlich in ohnmächtigen Zorn und Haß verwandelte.

      Unsere drei Rennpferde grasten auf der kleinen Koppel, als wir nach einer halben Stunde im Schrittempo zurückritten. Sie hoben die Köpfe und schnaubten. Lucky, der Falbe mit dem gelbweißen Haar und der schwarzen Mähne, kam zum Koppelzaun und streckte die Nase weit vor.

      Da Hazel am langen Zügel ging, konnte sie selbst entscheiden, ob sie zum Zaun gehen

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