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      Iris Marion Young

      Werfen wie ein Mädchen

      Ein Essay über weibliches Körperbewusstsein

      Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Barbara Reiter

      Mit einem Essay von Ina Kerner

      Reclam

      E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

      Titel des englischen Originaltextes:

      Throwing Like a Girl. A Phenomenology of Feminine Body Comportment, Motility, and Spatiality.

      In: Human Studies 3, Kluwer Academic Publishers, 1980

      2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      © der deutschen Übersetzung: 1993 Walter de Gruyter Verlag, Berlin

      Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2020

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961774-9

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014035-2

       www.reclam.de

      Werfen wie ein Mädchen1

      Eine Phänomenologie weiblichen Körperverhaltens, weiblicher Motilität und Räumlichkeit

      Erwin Straus stolpert bei der Diskussion der grundlegenden Bedeutung der lateralen Raumausdehnung, die eine einzigartige durch die aufrechte menschliche Haltung hervorgebrachte räumliche Ausdehnung darstellt, über den »bemerkenswerten Unterschied in der Art des Werfens bei den beiden Geschlechtern«.2 Um dies zu belegen, führt er eine Untersuchung und Photographien junger Mädchen und Jungen an und beschreibt den Unterschied folgendermaßen:

      Das fünfjährige Mädchen nutzt den lateralen Raum überhaupt nicht. Sie streckt ihren Arm nicht seitwärts aus; sie dreht ihren Rumpf nicht; sie bewegt ihre Beine nicht, sie bleiben nebeneinander stehen. Alles, was sie tut, um den Wurf vorzubereiten, ist, den rechten Arm nach vorne in die Horizontale zu heben und den Unterarm nach hinten in eine nach vorne gebeugte Position zu bringen […]. Der Ball fliegt ohne Kraft, Geschwindigkeit und exakte Zielgebung los […]. Bereitet ein Junge desselben Alters einen Wurf vor, so streckt er seinen rechten Arm seitwärts und nach hinten aus; nimmt den Unterarm zurück; dreht, wendet und beugt den Rumpf; stellt den rechten Fuß zurück. Aus dieser Position heraus vermag er seinen Wurf mit der Kraft fast des ganzen Körpers zu unterstützen […]. Der Ball verlässt die Hand mit beachtlicher Beschleunigung; er bewegt sich in einer langen flachen Kurve auf sein Ziel zu.3

      Obwohl er sich nicht lange mit diesem Problem aufhält, formuliert Straus einige Kommentare, die diesen »bemerkenswerten Unterschied« erklären sollen. Da dieser Unterschied in einem so frühen Alter zu beobachten ist, scheint er, so Straus, »die Manifestation eines biologischen, nicht eines erworbenen, Unterschieds« (157) zu sein. Er tut sich jedoch schwer damit, die Ursache dieses Unterschieds genauer anzugeben. Da der weibliche Wurfstil bereits bei jungen Kindern beobachtet wird, kann er nicht mit der Entwicklung der Brust zusammenhängen. Straus führt gegen dieses Argument an, dass »es offensichtlich ist«, dass die Amazonen, die ihre rechte Brust abschnitten, »einen Ball gerade so wie unsere Bettys, Marys und Susans warfen«. Nachdem er auf diese Weise die Brust als Erklärungsgrund aus dem Felde geschlagen hat, betrachtet Straus die geringere Muskelkraft des Mädchens als mögliche Erklärung für den Unterschied. Er schließt jedoch, dass man in diesem Fall von dem Mädchen erwarten könnte, dass es seine relative Schwäche durch einen zusätzlichen Schwung des Arms von hinten nach vorne kompensiere. Straus erklärt den Unterschied im Wurfstil, indem er sich auf eine »weibliche Haltung« gegenüber der Welt bezieht. Für ihn ist der Unterschied zwar biologisch begründet, er leugnet jedoch, dass er spezifisch anatomisch sei. Mädchen werfen anders als Jungen, denn Mädchen sind »weiblich«.

      Was noch mehr erstaunt als diese »Erklärung«, ist die Tatsache, dass ein Standpunkt, der Haltung und Bewegung als bestimmend für Struktur und Bedeutung menschlich gelebter Erfahrung ansieht, nur am Rande auf einen solch »bemerkenswerten Unterschied« zwischen der Körperhaltung und dem Bewegungsstil von Männern und Frauen eingeht, denn Werfen ist beileibe nicht die einzige Aktivität, bei der ein solcher Unterschied beobachtet werden kann. Falls es tatsächlich so etwas wie typisch »weibliche« Stile von Körperhaltung und Bewegung gibt, dann sollte doch gerade dem Existentialphänomenologen daran gelegen sein, eine solche Unterschiedlichkeit der Modalitäten des gelebten Körpers näher zu untersuchen. Straus ist jedoch bei weitem nicht der einzige, der bei der Beschreibung von Modalitäten, Bedeutung und Implikationen des Unterschiedes zwischen »männlicher« und »weiblicher« Körperhaltung und Bewegung falsch vorgeht.

      Ein Vorzug von Straus’ Wiedergabe des typischen Geschlechterunterschiedes beim Werfen besteht darin, dass er darauf verzichtet, diesen Unterschied mit Hilfe körperlicher Charakteristika zu erklären. Straus ist jedoch davon überzeugt, dass das geringe Alter, in dem der Unterschied sich beobachten lässt, zeigt, dass es sich dabei nicht um einen erworbenen Unterschied handelt. Dadurch kommt er nicht umhin, eine geheimnisvolle »feminine essence« anzunehmen, um den Unterschied erklären zu können. Die feministische Leugnung irgendeiner natürlichen und ewigen weiblichen Essenz als Erklärungsgrund für tatsächlich bestehende Unterschiede in Verhalten und Psychologie zwischen Männern und Frauen wurde am gründlichsten von Simone de Beauvoir formuliert. Jede menschliche Existenz ist durch ihre Situation definiert; die einzelne Existenz der weiblichen Person ist also genauso durch die historischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Grenzen ihrer Situation bestimmt. Wir reduzieren die Voraussetzungen der Frauen einfach auf Unbegreiflichkeit, wenn wir sie unter Bezugnahme auf irgendeine natürliche und ahistorische weibliche Essenz »erklären«. Wenn wir eine solche weibliche Essenz ablehnen, sollten wir jedoch auch nicht in einen »Nominalismus« verfallen, der die wirklichen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Verhaltensweisen und Erfahrungen leugnet. Obwohl es keine ewige weibliche Essenz gibt, gibt es doch »eine gemeinsame Basis, die jeder individuellen weiblichen Existenz im gegenwärtigen Stand von Erziehung und Gebräuchen zugrunde liegt«4. Die Situation von Frauen in einem gegebenen soziohistorischen Rahmen von Umständen kann trotz der individuellen Abweichungen in der jeweiligen Erfahrung, in den Möglichkeiten und Chancen jeder einzelnen Frau einheitlich verstanden werden. Diese gemeinsame Grundlage kann beschrieben und begreifbar gemacht werden. Es sollte jedoch betont werden, dass diese gemeinsame Basis jeweils von der einzelnen Epoche abhängt, deren soziale Formation sie prägt.

      Beauvoir gibt einen Überblick über die Situation der Frauen von bemerkenswerter Tiefe, Klarheit und Brillanz. Jedoch gelingt es auch ihr weitgehend nicht, dem Status und der Orientierung des weiblichen Körpers einen Platz zuzuweisen, sofern er sich in lebendiger Handlung auf seine Umgebung bezieht. Wenn Beauvoir über das körperliche Sein der Frau und ihre physische Beziehung zu ihrer Umgebung spricht, neigt sie zur Konzentration auf die offensichtlicheren Umstände der weiblichen Physiologie. Sie behandelt die weibliche Erfahrung des Körpers als eine Last und beschreibt, wie die hormonellen und physiologischen Veränderungen des Körpers während der Pubertät, während Menstruation und Schwangerschaft als undurchschaubar und beängstigend empfunden werden. Nach ihrer Auffassung belasten diese Erscheinungen die Existenz der Frau, weil sie sie an die Natur, an die Immanenz und die Erfordernisse der Arterhaltung fesseln – was auf Kosten ihrer eigenen Individualität geht.5 Indem sie die Situationsgebundenheit der wirklichen Körperbewegung der Frau weitgehend ignoriert, kommt bei Beauvoir der Eindruck auf, dass es die weibliche Anatomie und Physiologie als solche sind, die zumindest teilweise den unfreien Status der Frau bestimmen.6

      Dieser Aufsatz versucht zuallererst, eine Lücke zu füllen, die sowohl in der Existentialphänomenologie als auch

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