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Zeige deine Klasse. Daniela Dröscher
Читать онлайн.Название Zeige deine Klasse
Год выпуска 0
isbn 9783455004359
Автор произведения Daniela Dröscher
Издательство Readbox publishing GmbH
ICH: Du bist kein echtes Geschwisterchen. Das wissen wir beide. Oder nicht?
PUSSY: …
ICH: Du bist nicht mal eine Puppe.
PUSSY: …
ICH: Aber mein Herz …
PUSSY: …
ICH: … schlägt nur für dich.
Ich, das Einzelkind, hatte mich mit meiner kleinen roten Lederhandtasche bestens für den Kindergarten gerüstet, diesen magischen Ort, an dem es Gleichaltrige geben würde. Ich erwartete nicht weniger als das Paradies. Meine Enttäuschung war riesig, als ich verstand, dass dieser profane Bungalow der Garten sein sollte, den ich mir in meiner kindlichen Vorfreude ausgemalt hatte. Ich hatte tatsächlich einen Garten erwartet …
Es gab ein dreiblättriges Kleeblatt von Mädchen aus dem Dorf, an das ich mich sofort anschloss. Nur gab es zwischen ihnen und mir drei elementare Unterschiede:
Betty, Emily und Moni hatten langes Haar und einen Pferdeschwanz. Ich sah mit meinem Kurzhaarschnitt »wie ein Junge« aus.
Alle hatten ein »i« bzw. »y« am Ende. Ich war die Einzige, die auf »a« endete.
Alle redeten Dialekt. Ich sprach Hochdeutsch und war nicht im Dorf geboren, weshalb ich als ZUGEZOGENE galt.
Nach meinem ersten Tag im Kindergarten kam ich nach Hause und wollte meine Makel so schnell wie möglich loswerden. Kleine Kinder wollen lange Zeit »wie alle« sein. Es ist im Vergleich zu Heranwachsenden verblüffend, wie unausgeprägt ihr Hang zum Individualismus ist. Mein kurzes Haar konnte ich nicht lang zaubern; immerhin bekam ich Röcke statt Latzhosen. Meinen Geburtsort München konnte ich nicht leugnen, über meinen Namen allerdings hatte ich Macht.
Es war ein etwa fünfminütiger Weg von unserem Kindergarten bis nach Hause, er führte über eine kleine Brücke, Betty und ich durften ihn allein gehen, solange wir gemeinsam gingen und versprachen, zusammenzubleiben. In meiner Erinnerung ist mein Namenswechsel mit dieser Brücke und dem darunterfließenden Bach verknüpft: Auf diesem Styx mit Namen »Großbach« verließ ich erstmals den Bereich des Angeborenen. Ich beharrte darauf, »Dani« gerufen zu werden.49 Vor allem Betty weigerte sich, meinem Wunsch zu entsprechen. Sie wollte nicht, dass ich »wie sie« war. Sie wollte, dass ich erkennbar anders blieb.
Verwirrend: Ich »kam« aus München, hatte aber keinerlei Erinnerung an diesen Ort.
Ich kannte ihn nur von Fotos und Erzählungen. Meine Eltern zogen in unser Dorf zurück, als ich gerade einmal ein Jahr alt war, ich weiß also aus dieser Zeit naturgemäß nichts. Die einzige Erinnerung – offensichtlich eine Einbildung, denn ich kann faktisch keine daran haben – ist die, wie ich auf einem der Wege des Englischen Gartens laufen lerne. Die vielen Schwarz-Weiß-Fotografien und Super-8-Aufnahmen scheinen in meinem Kopf irgendwann ein Eigenleben gewonnen zu haben.
Mit vier hatte ich mich also umbenannt. Ich klang nun wie die anderen – vor allem klang ich wie Betty: Sommersprossen, dickes rotes Haar, wunderschön. Sie war die Anführerin des Kleeblatts. Ich liebte sie vom ersten Tag an. Sie, die nicht wollte, dass ich »Dani« war. Bettys Familie lebte im Haus direkt gegenüber von uns, die Eltern waren deutlich konservativer, aber nicht arm.
Verwirrend: Waren Bauern in der Logik meiner Familie nicht mit einer quasi naturhaften Armut assoziiert?
Betty war ein »Baueremäde«, wie es im rheinland-pfälzischen Dialekt hieß, also ein Bauernmädchen50, und über viele Jahre meine engste Freundin. Heute verstehe ich, warum die Beziehung zu ihr oft auch schlechte Gefühle in mir hinterließ. Die soziale Schere steckte von Anbeginn an in unseren Kinderherzen.
Zu meinem vierten Geburtstag bekam ich ein neues, schönes, leuchtend orangefarbenes Dreirad, und Betty fuhr im Laufe des Nachmittags, den wir in unserem Hof verbrachten, immer wieder mit ihrem alten, abgenutzten Rad absichtlich gegen mich. Am Abend lag ich mit blauen Flecken an den Unterschenkeln im Bett, und mich beschlich der Verdacht: Mit mir, meinem Dreirad und meiner Normalität konnte etwas nicht stimmen.
Was als NORMAL gilt, ist eine Fiktion, eine mittelalterliche Geometrie.51 Ich kenne keinen einzigen NORMALEN Menschen. NORMAL im Verhältnis wozu?
In Bettys Augen war ich alles andere als NORMAL, ich war reich: Reich nicht zuletzt deshalb, weil es im Haus meiner Eltern Bücher gab und meine Eltern saubere Berufe ausübten: Berufe, bei denen die Hände mit Papier, Stiften und Tastaturen in Berührung kamen, nicht mit Heugabeln, Schweineblut, Kuhmilch oder stinkendem Mist. Betty hat früh mit ihrer bäuerlich-konservativen Herkunft gehadert: dem Misthaufen hinter den Haus, den Gerüchen und Geräuschen der Nutztiere. Ich selbst sah zwar die Unterschiede, aber ich bewertete diese nicht in Hinblick auf Prestige, schon gar nicht im Sinne einer Abwertung.52 Im Gegenteil. Ich liebte Bettys Zuhause: Ihren kleinen Bruder, das deftige Essen, die Kuhmilch, die Scheune, die Katzen, den Dachboden. Die Kartoffelernte konnte ich immer kaum erwarten. Betty mochte diese erzwungene Mitarbeit genauso wenig, wie mein Vater sie als Kind gemocht hatte: Eben weil sie mithelfen mussten, während es für mich ein Abenteuer war, mit bloßen Händen in der Erde zu wühlen und auf dem Traktor mitzufahren. Betty hasste meine Begeisterung, die sie als leichtfertigen Exotismus empfunden haben muss. Sie hasste, dass ich es liebte.
Auch für ihren Neid auf mein Zimmer war ich blind. Betty teilte sich einen Raum mit ihrem jüngeren Bruder, spielen durften wir darin nicht, es sollte nicht abgenutzt werden. Mein Zimmer hingegen war mein Reich. In Bettys Augen muss ich eine Großgrundbesitzerin gewesen sein; für mich war, das zu haben, was ich hatte, NORMAL.
Erkenntnis: Ich kann die Angst reicher Menschen vor Neid nachempfinden. Die Scham, mehr zu haben als andere. Die Angst vor dem Reflex, auf das Etikett »reich« festgeschrieben zu werden.
Auch meine Mutter wusste, was ökonomische Not bedeutete, und wollte mit unserem Wohlstand niemanden beschämen. Ich weiß, dass es zu Hause etwa ein Thema war, dass unsere Familie zwei Autos besaß: einen orangefarbenen VW-Käfer meine Mutter und einen blassblauen BMW mein Vater.
MUTTER: Prahl nicht mit deinen Spielsachen vor Betty.
ICH: Ich prahle nicht. – Moment – was ist »prahlen«?
MUTTER: Angeben.
ICH: Ich bin nicht die, die angibt. Emily gibt an.
MUTTER: Womit?
ICH: Mit ihren Barbies.
MUTTER: Ach, lass sie doch. – Und sei auch nett zu Emily.
ICH: Obwohl sie angibt?
MUTTER: Gerade deswegen.
ICH: Alles klar. Mach ich.
Ich hatte mir meine Barbies, die dem pädagogischen Konzept meiner Mutter widersprachen, hart erkämpft und wollte lieber nicht viele Worte darüber verlieren.
Verwirrend: Emily besaß viel mehr Barbies als ich, ihr Zimmer war doppelt so groß wie meines, und sie prahlte offen damit. Ich prahlte nicht, aber ich war es, die Betty sich zum Vergleich erkor. Vielleicht gerade weil Emily prahlte und ich nicht. Womöglich spürte Betty, dass mir meine Spielsachen nicht wirklich wichtig waren.53
Ich sehe noch die Erklärungsnot, als meine Mutter mir auftrug, vor Betty nicht zu prahlen. Ihre Schwiegermutter hatte sie den Sozialneid fürchten gelehrt, und sie unternahm enorme Anstrengungen darin, NICHTS BESSERES sein zu wollen.
Womöglich war das die Sorge der meisten im Dorf – aufzufallen. Das ist nicht weiter erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Schlüssel zur bürgerlichen Mentalität Distinktion ist – über dieses Selbstbewusstsein, selbstverständlich feine Unterschiede markieren zu dürfen, verfügten in unserem Dorf die wenigsten. Fatal ist, dass dieses Credo – »nichts Besseres sein wollen« – auch genauso normativ und konformistisch funktioniert,