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mich wie immer langweilte: fallende goldbraune Blätter, ein sanft-blauer Himmel, ziehende Wattewölkchen, der würzige Duft modernden Laubes. Seit Millionen Jahren hatte es die Natur nicht für nötig gehalten, ihr Programm zu ändern. Die Erinnerung an unzählige, höchst unnütze Schulaufsätze ließ meinen Unmut noch wachsen: Ist der Herbst die Jahreszeit des Vergehens? Meine Gedanken im herbstlichen Wald. Herbstgedichte, die mir etwas gegeben haben. Gegen meinen Willen fiel mir ein Gedicht von Else Lasker-Schüler ein, das ich irgendwann einmal in den Heften meiner Tochter gefunden hatte. Obwohl mein Gedächtnis für derartige Dinge zu wünschen übrig lässt, hatte ich mir drei, vier Zeilen eingeprägt. „Ich will dir viel viel Liebe sagen – wenn auch schon kühle Winde wehen, in Wirbeln sich um Bäume drehen, um Herzen, die in ihren Wiegen lagen.“

      Warum dieses Gedicht, warum diese Aufzeichnungen? Es kommt mir alles lächerlich vor, furchtbar lächerlich. Dieser verdammte Aktivismus! Wir tun nur etwas, wir arbeiten in Wahrheit nur so verbissen, um uns über die Sinnlosigkeit unseres Daseins hinwegzutäuschen, um den Gedanken zu verjagen, dass wir so bedeutungslos sind wie die winzigste Ameise, die wir gerade zertreten haben, dass wir zu sterben haben, ohne eine bleibende Spur zu hinterlassen.

      Doch Schreiben entlastet, und darum schreibe ich hier. Ich schreibe, also bin ich.

      Milde Resignation eines Arrivierten an einem Herbstmorgen ... Aber damit dürfte ad eins klar geworden sein, dass ich ein durch und durch widersprüchlicher Mensch mit einer beträchtlichen Distanz zu meiner eigenen sozialen Rolle bin und zum andern, dass ich an diesem besagten Oktobermorgen schlechte Laune hatte. Wenigstens auf dem Weg zur Universität. Die gute Reinhild, seit mehr als zwanzig Jahren meine Ehefrau, hatte auf dem Bücherbrett unserer Tochter einen Haufen Aufklärungsschriften gefunden (Die Liebesvereinigung in Wort und Bild, Ekstasen der Liebe, Triebe unter dunkler Haut) und den ganzen Sonntag über studiert. Nun, auch unter der Sahara soll es ja frisches Wasser geben. Kurzum, Reinhild hatte plötzlich ihre Das-haben-wir-endlich-hinter-uns-Philosophie vergessen und abends im Bett von mir Dinge verlangt, zu deren Ausführung mich ihre verblichenen Reize ansonsten höchstens einmal alle vierzehn Tage verleiten konnten. Aber mein Heisch war so schwach geblieben, wie ihres geworden war.

      Erst als ich meinen perlgrauen Mercedes 220 SE vor dem lang gestreckten Fakultätsgebäude geparkt hatte und die paar Stufen zu unserem Institut hinaufgestiegen war, fand ich zum inneren Frieden zurück. Fräulein Blau nämlich – unsere frisch aus dem Urlaub zurückgekehrte blonde Sekretärin – saß rauchend auf dem Schreibtisch, und das, was der Anblick ihrer kaum verhüllten Schenkel in mir – oder besser: an mir – auslöste, schwemmte alle geheimen Ängste fort.

      „Guten Morgen, mein schönes Kind“, sagte ich und küsste ihr in alter Ballhausmanier die Hand.

      „Einen wunderschönen guten Morgen“, erwiderte Beate Blau. Sie legte Wert auf einen neckisch-gebildeten Plauderton, schließlich hatte sie die mittlere Reife. Möglicherweise war sie Nymphomanin, jedenfalls verfügte sie über eine stattliche Schar potenter Freunde und bemühte sich tagtäglich, auch mich zum Mittel ihrer ureigensten Lustmaximierung zu machen, aber es war mir bisher immer gelungen, mich zu beherrschen. Irgendwann hatte man mir eingehämmert, dass man so etwas nicht tut, dass das einfach nicht geht. Ich, ein weltbekannter Wissenschaftler, überall wegen meines unbestechlichen, durchdringenden Verstandes gepriesen, ich fürchtete, im Falle eines Falles von einem Gott verdammt zu werden, an den ich offiziell gar nicht glaubte. Außerdem hatte ich Angst. Angst vor IHM, Angst vor ihr, dass ich ihren hohen Ansprüchen nicht genügen würde, Angst vor Reinhilds Tränen, Angst vor dem Spott meiner hellsichtigen Tochter, Angst vor dem Getuschel der Studenten und vor allem Angst davor, dass es zu einem Skandal kommen könnte, der meiner politischen Karriere zumindest nicht förderlich wäre. Meine Partei schätzte solche Sachen nicht.

      Mögen die folgenden Zeilen, und nicht nur sie, auch ein wenig unter meinem Niveau liegen, so muss ich die Szene mit Beate Blau dennoch wahrheitsgetreu wiedergeben, denn einmal bin ich als empirischer Soziologe dem sorgfältigen Festhalten aller handlungsrelevanten Faktoren verpflichtet, und zum andern hat sie für das grundsätzliche Verständnis meiner Verhaltensweisen einige wichtige Funktionen. Vielleicht, so scheint es mir manchmal, steckt in mir auch ein Romancier, der das Epische liebt. Somit ist es im Hinblick auf meine Aufzeichnungen nicht weiter verwunderlich, wenn Analysen und Reflexionen immer wieder von der bloßen Deskription des Erlebten unterbrochen werden. Das kann natürlich nicht ohne Stilbrüche abgehen, zu denen es vor allem immer dann zu kommen scheint, wenn es mir beim Niederschreiben meiner Gedanken misslingt, meine Emotionen ganz zu kontrollieren. Wahrscheinlich spielt meine Eitelkeit dabei mit; ich merke schon jetzt, wie sehr mich diese Umstände fortwährend frustrieren und wie schwer die angestrebte Katharsis zu erreichen sein wird.

      Nach dieser notwendig gewordenen Anmerkung kann ich nun reineren Gewissens zur Universität und zu Beate Blau zurückkehren.

      „Nun, haben Sie ein schönes Wochenende verlebt?“, fragte ich betont distanziert, als hätte ich die picklige Schulfreundin meiner Tochter vor mir.

      „Ja, danke ... Gestern war ich tanzen im Palais am Funkturm. Da hab ich ’nen Steuerprüfer kennen gelernt, Diplom-Kaufmann mit ’nem roten Alfa Romeo, wissen Sie, was der mir nach zwei Tänzen vorgeschlagen hat?

      „Nein, woher ...“ Ich merkte, wie ich rot wurde. „Ist die Post schon da?“, fragte ich schnell.

      Sie warf mir einen resignierenden Blick zu, ließ sich vom Schreibtisch herabgleiten, strich sich Loreley-Haar und Boutique-Kleidung glatt und drückte mir einen gefüllten Aktendeckel in die feucht gewordene Hand. Ich verschwand dankend in meinem Zimmer.

      Picassos Frau mit Haarnetz schaute mir schwarz-grün vom Fünf-Mark-Hertie-Druck entgegen. Am liebsten hätte ich ihr den jadegrünen Stein ins Gesicht geworfen, den ich mir im vergangenen Jahr aus Rhodos mitgebracht hatte. Ich empfand eine furchtbare Wut gegen etwas, das sich nicht fassen, nicht denken ließ. Es ist natürlich Unsinn, zu behaupten, ich hätte geahnt, was an diesem Tag auf mich zukommen würde.

      Ich öffnete das Fenster, blickte einige Sekunden lang auf den mit Schieferplatten belegten Weg hinunter, der sich von der Mensa zum Henry-Ford-Bau schlängelte, musterte die vorüberziehenden Studierenden, vor allem die weiblichen, und genoss es, dieses prestige- und geldlose Stadium hinter mir zu haben. Obwohl ich mich dagegen wehrte, spürte ich wie immer den Widerwillen gegen diesen disziplinlosen Haufen, der mir alles nehmen wollte, was ich mir mühsam aufgebaut hatte, der meine Thesen und Theorien höhnisch kritisierte und verwarf, der alles besser wusste. Und dabei hatte ich ihnen selbst die Munition geliefert und oftmals mit ihnen hinter den Barrikaden gelegen. Das war es ja, was mich so entnervte: mit dem Verstand war ich auf ihrer Seite, doch meine Gefühle ihnen gegenüber waren voller Abscheu und Aggression. Der Geist, den mir mein Vater, der Oberst Robert W. Kolczyk, jahrelang eingeimpft hatte, ließ sich so leicht nicht abtöten.

      Ich schreibe das vor allem, um mir selbst über manche Motive meines Handelns klar zu werden. Vielleicht gibt es auch Tiefenpsychologen und andere kluge Leute, die diese Aufzeichnungen einmal analysieren und meiner Frau, meiner Tochter und meinen Freunden klarmachen, wer ich war und warum ich so war. Ich hasse philosophisches Geschwafel, dem ich oft nicht entgehen kann, aber in meinen privaten Aufzeichnungen nehme ich mir das Recht, so zu schreiben, wie ich meiner Herkunft nach empfinde.

      Zuerst las ich mir die diversen Flugblätter durch, die mir die blaue Beate, wie man sie privat – mitunter recht treffend – nennt, liebenswürdigerweise zusammengetragen hatte. Ich verfluchte diesen und jenen und wandte mich dann den Vorschlägen zu, die von studentischer Seite zur Reform unseres Instituts erarbeitet worden waren. Doch schon kurz darauf klopfte Beatchen, stieß die glatte graue Tür auf und schleppte ein ziemlich schweres Paket herein.

      „Die Belegexemplare vom Verlag ...!“, schnaufte sie.

      Ich ging ihr schnell entgegen und nahm ihr den Packen aus der Hand. Mein neues Buch, endlich! Gemeinsam wickelten wir das erste Exemplar aus. Ich war so aufgeregt wie Weihnachten 1933, als mir meine Eltern die erste elektrische Eisenbahn geschenkt hatten. Der letzte Bogen glitt auf den Fußboden hinunter, ich hielt das Buch mit ausgestreckten Armen. Es muss so ausgesehen haben, als würde ich meinen erstgeborenen Sohn in Empfang nehmen.

      Rüdiger

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