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Reinrassigen in ganz Brasilien gefunden, den Kaiser Dom Pedro II., Übertreibung sein, so ist doch außer den letzten Neueingewanderten gerade der echte, der rechte Brasilianer gewiß, einige Tropfen heimatlichen Bluts in dem seinen zu haben. Aber Zeichen und Wunder: er schämt sich dessen nicht. Das angeblich destruktive Prinzip der Mischung, dieser Horror, diese »Sünde gegen das Blut« unserer besessenen Rassentheoretiker ist hier bewußt verwertetes Bindemittel einer nationalen Kultur. Auf diesem Fundament hat sich seit vierhundert Jahren sicher und stetig eine Nation erhoben und – Mirakel! – die ständige Durchströmung und gegenseitige Anpassung unter gleichem Klima und gleichen Lebensbedingungen hat einen durchaus individuellen Typus herausgearbeitet, dem alle die von den Rassenreinheitsfanatikern großmäulig angekündigten »zersetzenden« Eigenschaften völlig fehlen. Selten kann man irgendwo in der Welt schönere Frauen und schönere Kinder sehen als bei den Mischlingen, zart im Wuchs, sanft im Gehaben; mit Freude sieht man in dem halbdunklen Gesicht der Studenten Intelligenz gepaart mit einer stillen Bescheidenheit und Höflichkeit. Eine gewisse Weichheit, eine linde Melancholie formt hier einen neuartigen und sehr persönlichen Gegensatz heraus zu dem schärferen und aktiveren Typus des Nordamerikaners. Was sich in dieser Mischung »zersetzt«, sind einzig die vehementen und darum gefährlichen Gegensätze. Diese systematische Auflösung der geschlossenen und vor allem zum Kampf geschlossenen nationalen oder rassischen Gruppen hat die Schaffung eines einheitlichen Nationalbewußtseins unendlich erleichtert, und es ist erstaunlich, wie vollkommen schon die zweite Generation sich nurmehr als Brasilianer empfindet. Immer sind es die Tatsachen in ihrer unableugbaren sichtbaren Kraft, welche die papiernen Theorien der Dogmatiker widerlegen. Darum bedeutet das Experiment Brasilien mit seiner völligen und bewußten Negierung aller Farb- und Rassenunterschiede durch seinen sichtbaren Erfolg den vielleicht wichtigsten Beitrag zur Erledigung eines Wahns, der mehr Unfrieden und Unheil über unsere Welt gebracht hat als jeder andere.

      Und nun weiß man auch, warum sich einem die Seele so entlastend entspannt, kaum man dieses Land betritt. Erst vermeint man, diese lösende, beschwichtigende Wirkung sei nur Augenfreude, beglücktes In-sich-Aufnehmen jener einzigartigen Schönheit, die den Kommenden gleichsam mit weich gebreiteten Armen an sich zieht. Bald aber erkennt man, daß diese harmonische Disposition der Natur hier in die Lebenshaltung einer ganzen Nation übergegangen ist. Erst wie etwas Unglaubwürdiges und dann als unendliche Wohltat begrüßt einen, der eben der wahnwitzigen Überreiztheit Europas entflüchtet ist, die totale Abwesenheit jedweder Gehässigkeit im öffentlichen wie im privaten Leben. Jene fürchterliche Spannung, die nun schon seit einem Jahrzehnt an unseren Nerven zerrt, ist hier fast völlig ausgeschaltet; alle Gegensätze, selbst jene im Sozialen, haben hier bedeutend weniger Schärfe und vor allem keine vergiftete Spitze. Hier ist noch nicht die Politik mit all ihren Perfiditäten Angelpunkt des privaten Lebens, nicht Mittelpunkt alles Denkens und Fühlens. Es ist die erste und dann täglich glücklich erneute Überraschung, kaum man dieses Land betritt, in wie freundlicher und unfanatischer Form die Menschen innerhalb dieses riesigen Raums miteinander leben. Unwillkürlich atmet man auf, der Stickluft des Rassen- und Klassenhasses entkommen zu sein in dieser stilleren, humaneren Atmosphäre. Zweifellos, es ist hier mehr Lässigkeit in der Lebensführung. Die Menschen entwickeln unter dem unmerklich erschlaffenden Einfluß des Klimas weniger Stoßkraft, weniger Vehemenz, weniger Dynamik, also gerade die Eigenschaften, die man heutzutage in tragischer Überschätzung als die moralischen Werte eines Volkes anpreist; aber wir, die wir die fürchterlichen Folgen dieser psychischen Überspannungen, dieser Gier und Machtwut am eigenen Schicksal erfahren, genießen diese lindere und gelassenere Form des Lebens als eine Wohltat und ein Glück. Nichts liegt mir ferner als vortäuschen zu wollen, daß alles in Brasilien sich heute schon im Idealzustand befinde. Vieles ist erst im Anbeginn und Übergang. Noch liegt die Lebenshaltung eines Großteils der Bevölkerung weit unter der unseren. Noch sind die technischen, die industriellen Leistungen dieses Fünfzig-Millionen-Volks nur etwa mit denen eines europäischen Kleinstaats zu vergleichen. Noch ist die Verwaltungsmaschinerie nicht ganz eingespielt und zeitigt oft ärgerliche Stockungen. Noch reist man mit ein paar hundert Meilen ins Innere gleichzeitig ins Primitive um ein Jahrhundert zurück. Wer neu in das Land kommt, wird sich im täglichen Leben an kleine Unpünktlichkeiten und Unzuverlässigkeiten, an eine gewisse Laxheit erst anpassen müssen, und gewisse Reisende, die nur vom Hotel und vom Auto aus die Welt sehen, können sich noch den Luxus leisten, mit dem hochmütigen Gefühl zivilisatorischer Überlegenheit zurückzureisen und vieles in Brasilien rückständig oder unzulänglich zu finden. Aber die Ereignisse der letzten Jahre haben unsere Meinung über den Wert der Worte »Zivilisation« und »Kultur« wesentlich geändert. Wir sind nicht mehr willens, sie kurzerhand dem Begriff »Organisation« und »Komfort« gleichzustellen. Nichts hat diesen verhängnisvollen Irrtum mehr gefördert als die Statistik, die als mechanische Wissenschaft berechnet, wieviel in einem Lande das Volksvermögen beträgt, und wie groß der Anteil des einzelnen daran ist, wie viele Autos, Badezimmer, Radios und Versicherungsgebühren pro Kopf der Bevölkerung entfallen. Nach diesen Tabellen wären die hochkultiviertesten und hochzivilisiertesten Völker jene, die den stärksten Impetus der Produktion haben, das Maximum an Verbrauch und die größte Summe an Individualvermögen. Aber diesen Tabellen fehlt ein wichtiges Element, die Einrechnung der humanen Gesinnung, die nach unserer Meinung den wesentlichsten Maßstab von Kultur und Zivilisation darstellt. Wir haben gesehen, daß die höchste Organisation Völker nicht verhindert hat, diese Organisation einzig im Sinne der Bestialität statt in jenem der Humanität einzusetzen, und daß unsere europäische Zivilisation im Lauf eines Vierteljahrhunderts zum zweiten Male sich selber preisgegeben hat. So sind wir nicht mehr gewillt, eine Rangordnung anzuerkennen im Sinne der industriellen, der finanziellen, der militärischen Schlagkraft eines Volkes, sondern das Maß der Vorbildlichkeit eines Landes anzusetzen an seiner friedlichen Gesinnung und seiner humanen Haltung.

      In diesem – meiner Meinung nach dem wichtigsten – Sinne scheint mir Brasilien eines der vorbildlichsten und darum liebenswertesten Länder unserer Welt. Es ist ein Land, das den Krieg haßt und noch mehr: das ihn soviel wie gar nicht kennt. Seit mehr als einem Jahrhundert hat mit Ausnahme jener Paraguay-Episode, die von einem tollgewordenen Diktator sinnlos provoziert wurde, Brasilien alle Grenzkonflikte mit seinen Nachbarn durch gütliche Vereinbarungen und Appell an internationale Schiedsgerichte ausgetragen. Nicht Generäle sind sein Stolz und seine Helden, sondern die Staatsmänner wie Rio Branco, die durch Vernunft und Konzilianz Kriege zu verhindern wußten. Ganz in sich geschlossen, die Sprachgrenze eins mit der Landesgrenze, hat es keinerlei Eroberungswillen, keine imperialistischen Tendenzen. Kein Nachbar kann von ihm etwas fordern, und es fordert nichts von seinen Nachbarn. Nie ist der Friede der Welt durch seine Politik bedroht gewesen, und selbst in einer unberechenbaren Zeit wie der unseren kann man sich nicht ausdenken, daß dieses Grundprinzip seines nationalen Gedankens, dieser Wille zur Verständigung und Verträglichkeit sich jemals verändern könnte. Denn dieser Wille zur Konzilianz, diese humane Haltung ist nicht zufällige Gesinnung einzelner Herrscher und Führer gewesen; er ist hier das natürliche Produkt eines Volkscharakters, der eingeborenen Toleranz des Brasilianers, die sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder bewährt hat. Als einzige der iberischen Nationen hat Brasilien keine blutigen Religionsverfolgungen gekannt, nie haben hier die Scheiterhaufen der Inquisition geflammt, in keinem Lande sind die Sklaven verhältnismäßig humaner behandelt worden. Selbst seine inneren Umstürze und Regierungsänderungen haben sich beinahe unblutig vollzogen. Der König und die zwei Kaiser, die sein Wille zur Selbständigkeit aus dem Lande drängte, haben es ohne jede Behelligung und darum ohne Haß verlassen. Selbst nach niedergeschlagenen Aufständen und Putschen haben seit Brasiliens Selbständigkeit die Anführer den Preis nicht mit ihrem Leben bezahlt. Wer immer dieses Volk regierte, war unbewußt genötigt, sich dieser inneren Konzilianz anzupassen; es ist kein Zufall, daß es – unter allen Ländern Amerikas jahrzehntelang die einzige Monarchie – als Kaiser den demokratischsten, den liberalsten aller gekrönten Regenten gehabt hat und heute, da es als Diktatur gilt, mehr individuelle Freiheit und Zufriedenheit kennt als die meisten unserer europäischen Länder. Darum beruht auf der Existenz Brasiliens, dessen Willen einzig auf friedlichen Aufbau gerichtet ist, eine unserer besten Hoffnungen auf eine zukünftige Zivilisierung und Befriedung unserer von Haß und Wahn verwüsteten Welt. Wo aber sittliche Kräfte am Werke sind, ist es unsere Aufgabe, diesen Willen zu bestärken. Wo wir in unserer verstörten Zeit noch Hoffnung auf neue Zukunft in neuen Zonen sehen, ist es unsere Pflicht, auf dieses Land, auf diese Möglichkeiten hinzuweisen.

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