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Bumble holte mit weiten Schritten aus, und der kleine Jnge trabte neben ihm her, wobei er alle fünf Minuten fragte, ob sie nicht bald „da“ seien.

      Oliver war noch keine Viertelstunde im Armenhause und kaum mit der Vertilgung eines zweiten Stückchen Brotes fertig, als Bumble ihm sagte, daß heute abend eine Vorstandssitzung sei, und daß er unverzüglich vor dem Kollegium zu erscheinen habe.

      Die Begriffe von Sitzung und Kollegium waren Oliver nicht besonders klar. Er wußte deshalb nicht, ob er bei dieser Nachricht lachen oder weinen sollte. Bumble führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, wo acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch saßen. Oben am Tische machte sich auf einem Lehnstuhl, der etwas höher als die übrigen Stühle war, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte breit.

      „Verbeuge dich vor den Vorstandsmitgliedern!“ sagte Bumble, und Oliver tat es.

      „Wie heißt du, Junge?“ fragte der Mann im hohen Lehnstuhl.

      Der Anblick so vieler Herren brachte Oliver so aus der Fassung, daß er zu zittern anfing. Er antwortete daher nur leise und schüchtern.

      „Junge!“ sagte der Vorsitzende, „du weißt doch, daß du eine Waise bist?“

      „Was ist das?“ fragte der arme Kerl.

      „Du weißt doch, daß du keinen Vater und keine Mutter hast und daß du von der Gemeinde erzogen wirst, nicht wahr?“

      „Jawohl, Herr“, erwiderte Oliver, bitterlich weinend.

      „Warum heulst du?“ fragte ein Herr mit einer weißen Weste. In der Tat, der Grund, weshalb er weinte, war sehr schwer zu finden.

      „Ich hoffe, du betest jeden Abend vorm Zubettgehen für die Leute, die dich aufziehen, wie es sich für einen Christen geziemt“, fragte ein anderer Herr mit barscher Stimme.

      „Ja, Herr“, stotterte der Junge.

      „Nun, wir haben dich hierherkommen lassen, damit du erzogen wirst und ein nützliches Gewerbe lernst“, sagte der Vorsitzende.

      „Du wirst daher morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen“, fügte der Herr mit der weißen Weste hinzu.

      Für die Verbindung dieser beiden Wohltaten machte Oliver auf einen Wink des Gemeindedieners eine tiefe Verbeugung und wurde dann schnell in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einer harten Pritsche in den Schlaf weinte.

      Armer Oliver! Er dachte nicht daran, als er so in einer glücklichen Selbstvergessenheit schlummernd dalag, daß jene Männer am selben Tage einen Entschluß gefaßt hatten, der den größten Einfluß auf sein künftiges Geschick haben sollte. Und doch war es der Fall, wie wir in folgendem sehen werden.

      Die Mitglieder des Gemeinderats waren sehr weise, einsichtsvolle, philosophische Manner. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem Armenhaus zuwandten, fanden sie mit einem Male, was bisher noch kein gewöhnlicher Sterblicher entdeckt hatte, daß es den Armen darin zu gut gefiel. Es war in ihren Augen ein rechtes Vergnügungslokal für die besitzlosen Klassen, ein Wirtshaus, wo nichts bezahlt wurde jahein, jahraus Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot auf öffentliche Kosten - , ein Elysium aus Backsteinen und Mörtel mit Spiel und Tanz, ohne jede Arbeit.

      „Oho“, sagten die Gemeinderäte, „das muß anders werden, und zwar sofort.“ Sie setzten daher als Richtlinie fest, daß die armen Leute die Wahl haben sollten (denn es war nicht ihre Absicht, jemand zu zwingen), in dem Hause langsam oder außer dem Hause schnell Hungers zu sterhen. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und trafen mit dem Getreidelieferanten eine Übereinkunft, von Zeit zu Zeit kleine Mengen Hafermehl herbeizuschaffen. So erhielten dann die Insassen des Armenhauses dreimal täglich einen dünnen Haferschleim, außerdem zweimal in der Woche eine Zwiebel und sonntags eine halbe Semmel.

      Schon in den ersten sechs Monaten nach Olivers Rückkehr war dieses System in vollem Gange. Der Raum, in dem die Jungen abgefüttert wurden, war eine große Halle aus Stein, an deren einem Ende ein kupferner Kessel stand. Aus diesem schöpfte der Speisemeister, unterstützt von einigen Frauen, zur Essenszeit den Haferschleim. Von dieser köstlichen Speise erhielt jeder Junge einen Napf voll, und nicht mehr – festliche Anlässe ausgenommen, an denen sie auch noch ein nicht allzu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht abgewaschen zu werden, die Jungens bearbeiteten sie mit ihren Löffeln so lange, bis sie wieder spiegelblank waren.

      Kinder haben fast immer Hunger. Oliver und seine Kameraden hatten die Qualen des langsamen Hungertodes drei Monate lang ausgehalten. Da erklärte ein ziemlich großer Junge, dessen Vater eine kleine Kneipe hatte, und der daher reichliches Essen gewöhnt war, er fürchte seinen Schlafkameraden einmal nachts aufzuessen, wenn er nicht noch einen weiteren Napf Haferschleim täglich erhielte. Dabei rollten seine Augen wild. Die Jungen beratschlagen und losten dann, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle. Das Los fiel auf Oliver Twist.

      Der Abend kam heran, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, und nachdem ein langes Tischgebet über das kurze Mahl gesprochen war, wurde der Haferbrei aus, geteilt. Dieser war schnell im Magen der Kinder verschwunden, als Oliver aufstand und mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hintrat. Hunger und Elend ließen ihn alle Rücksichten vergessen, doch zitterte er, als er sagte:

      „Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr.“

      Der wohlgenährte, rotbäckige Koch wurde bei diesen Worten blaß und mußte sich am Kessel festhalten. Er blickte mit starrem Entsetzen auf den kleinen Rebellen und stieß schließlich mit schwacher Stimme aus: „Was?“

      „Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr!“

      Da schlug ihn der Küchenmeister mit dem Löffel über den Kopf, packte Oliver bei den Händen und rief laut nach dem Gemeindediener.

      Der Verwaltungsausschuß hielt eben eine Sitzung ab, als Herr Bumble aufgeregt ins Zimmer stürzte. Er wandte sich an den Vorsitzenden:

      „Verzeihung, Herr Limbkins! Oliver Twist hat mehr haben wollen!“

      Alle waren starr.

      „Mehr?“ fragte Herr Limbkins. „Nehmen Sie sich zusammen, Bumble, und antworten Sie mir klar und deutlich. Habe ich das so zu verstehen, daß er noch mehr verlangte, nachdem er bereits seinen vorschriftsmäßigen Anteil erhalten hatte?“

      „Jawohl, Herr!“

      „Der Junge wird am Galgen enden“, sagte der Herr mit der weißen Weste. „Ich bin ganz sicher, daß der Bursche dereinst gehängt wird!“

      Niemand widersprach dieser Prophezeiung. Nach kurzer Beratung wurde Oliver eingesperrt. Am nächsten Morgen wurde ein Anschlag an das Tor geklebt, der jedem, der Oliver der Gemeinde abnähme, eine Summe von fünf Pfund verhieß. Mit anderen Worten, Oliver Twist wurde nebst fünf Pfund jedem Mann oder jeder Frau – wer eben einen Lehrling oder einen Laufburschen brauchte – angeboten.

      Drittes Kapitel

      Berichtet, wie Oliver Twist dicht daran war, eine Stellung zu bekommen, die keine Sinekure gewesen wäre

      Oliver blieb eine Woche lang in einer dunklen, einsamen Kammer eingesperrt. Er weinte den ganzen Tag über bitterlich. Wenn dann die lange, traurige Nacht kam, legte er seine Händchen auf die Augen, um nicht ins Dunkel starren zu müssen, kroch in eine Ecke und versuchte zu schlafen. Alle Augenblicke aber fuhr er aus seinem Schlaf auf und drückte sich dann dichter an die Mauer, als ob er sich selbst in ihrer kalten, harten Fläche einen Schutz gegen die ihn umgebende Finsternis verspräche.

      Nun begab es sich, daß eines Morgens der Schornsteinfegermeister Gamfield die Landstraße entlangzog. Er dachte darüber nach, wie er gewisse Mietsrückstände, um die ihn sein Hauswirt ziemlich energisch gemahnt hatte, bezahlen solle. Er wußte nicht, wie er die ihm fehlenden fünf Pfund herbeischaffen könnte, und marterte damit bald sein Gehirn, bald den Kopf seines Esels. Da fiel ihm plötzlich der Anschlag ins Auge, als er beim Armenhause vorbeikam.

      „Halt!“ sagte der Meister zu dem

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