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5447 Tage Im Schatten vom Paradies. Patrick Naumann
Читать онлайн.Название 5447 Tage Im Schatten vom Paradies
Год выпуска 0
isbn 9783347078789
Автор произведения Patrick Naumann
Жанр Биографии и Мемуары
Издательство Readbox publishing GmbH
Mein Geschäftssinn muss wohl schon damals ausgeprägt gewesen oder eben dort geweckt worden sein. Jedenfalls ging ich schnurstracks mit breiter Brust zu meiner Eisdiele. Der Italiener staunte nicht schlecht, als eine Hand sich den Tresen hochkämpfte und ich ihm auf Zehenspitzen stehend zwei Schrauben hinlegte. Ich wollte eine Kugel Himbeereis. Das war für mich der Gott unter den Eiskugeln, dunkelrosa mit Fruchtstücken, sahnig-cremig. Später sah man mir an, dass es mir schmeckte.
In der Erwartung auf mein Himbeereis muss mir wohl, als er über den Tresen schaute, schon der Zahn getropft haben. Jedenfalls gab er mir die Kugel und ich ging stolz und mit neuem Plan nach Hause. Ich wollte die Eisdiele nun mit Schrauben und Muttern überschwemmen und mir so tausende von Kugeln Himbeereis kaufen. Am nächsten Tag erzählte ich stolz in der Schmiede von meinem Vorhaben. Der alte Chef lachte nur, strich mir übers Haar und gab mir 20 Pfennig. So viel kostete nämlich damals eine Kugel.
Traktor, Flugzeug, Bus oder Liebe, Gürtel und Schmerz
Wie es das Schicksal wollte, war die neue Heimat nicht von langer Dauer. Ich stand kurz vor meinem fünften Lebensjahr, sozusagen mitten im Leben und da hieß es wieder Abschied nehmen von Stuttgart-Möhringen, der kleinen Schmiede, der Eisdiele um die Ecke, von meinen Schrauben und Muttern, von meiner Himbeereisquelle.
Toll fand ich den Tapetenwechsel nur wegen dem unheimlichen Zimmer. Nächster Halt: Weiler zum Stein in der Nähe von Winnenden. Diesmal in einem Zweifamilienhaus, zwar auch wieder unter dem Dach, aber da es eine Dreizimmerwohnung war, hatte ich ein eigenes Zimmer. Dazu bekam ich noch eine Oma. Sie wohnte im ersten Stock mit ihrem Mann. Er war ein alter Landwirt. Hier verbrachte ich einer meiner schönsten Zeiten in meiner Kindheit.
Meine Mutter war nun im Außendienst bei einer Kosmetikfirma angestellt und viel unterwegs. In dieser Zeit passte die Oma auf mich auf. Wir backten zusammen Kuchen, schauten TV und spielten im Garten. Hin und wieder nahm mich ihr Mann mit aufs Feld. Für mich war er ein Held. Er redete zwar nicht viel, aber was er sagte war wichtig. Er steuerte diese riesigen Maschinen auf diesen endlosen Feldern. Das Einzige was er brauchte war sein Stofftaschentuch mit dem er sich ab und zu den Schweiß wegwischte. Ich durfte dann auch mal Traktor fahren und war natürlich stolz wie Oskar. Als wir vom Feld kamen fühlte ich mich selbst wie ein Held, wie ein Cowboy und freute mich auf das leckere Essen bei Oma, der ich aufgebracht meine Heldengeschichte erzählte. Sie hörte mir beim Aufdecken zu, schaute ihren Mann an und lächelte, nachdem sie sich mir wieder zurichtete und mich lobte. Es war eine wunderschöne Zeit, ich hätte nichts mehr gebraucht, keine Schule, kein Verreisen, keine andere Stadt, nur meine Oma, meinen Opa, mein Meerschweinchen, das ich mittlerweile hatte und vor allen Dingen, mein Stofftaschentuch, das ich wie Opa, jetzt aus meiner Tasche stolz raushängen lies.
Doch wie ein Cowboy auch mal vom Pferd fällt, so sollte auch ich hart aufschlagen. Ich wurde mit sechs Jahren eingeschult und machte meine traurigste und schrecklichste Erfahrung zu dieser Zeit. Meine Oma verstarb! Ich wurde in eine Pflegefamilie gegeben.
Wieder in eine neue Stadt ziehen, Schule wechseln, Umfeld ändern und alles zurücklassen. Eine neue Art von Kindheit sollte mir bevorstehen. Meiner Mutter blieb wahrscheinlich nichts anderes übrig, sodass sie das Jugendamt um Hilfe bitten musste. Wer sollte auf mich aufpassen?
Eine Pflegefamilie wurde schnell gefunden. Ein Ehepaar mit einem Jungen, der in dem gleichen Alter war wie ich. Mein neues Zuhause sollte nun Schondorf werden. Vorab gab es ein erstes Treffen mit der Pflegefamilie. Der Mann hatte so viele Modellflugzeuge in der Wohnung, dass ich dachte er sei Pilot, aber er war nur Busfahrer und seine Frau Hausfrau. Zum Anfang lief alles gut und die Eingewöhnungsphase war soweit überstanden. Nach etwa zwei Monaten begann es aber mit den Misshandlungen. Erst war es nur, dass ich das, was ich an einem Tag nicht gegessen hatte, zum Beispiel Grießbrei, ich hasste Grießbrei, dass ich das am nächsten Tag wieder vorgesetzt bekam – so lange, bis es aufgegessen war. Am Wochenende durften wir beiden Jungs nicht vor neun Uhr aufstehen. Ich konnte es aber nicht verhindern, dass sich menschliche Bedürfnisse bemerkbar machten und musste auf die Toilette. So kam es, dass ich ins Bett machte und dafür meine erste Tracht Prügel erhielt. Im Winter wurde ich zur Strafe mit kurzer Hose zur Schule geschickt. Es war kalt und die anderen Kinder hänselten mich. Einmal kamen der Sohn und ich 15 Minuten zu spät vom Spielen heim. Ich kann mich noch erinnern, dass wir die Mutter anflehten nichts dem Vater zu sagen, der auf Spätschicht war. Sie versprach uns nichts zu sagen. Wir schliefen bereits als ich von einem Grölen und Gepolter wach wurde. Ich wusste noch gar nicht recht was los war. Die Türe wurde aufgerissen und wir aus dem Bett gezerrt. Schon spürte ich den Gürtel. Wir bekamen eine ordentliche Tracht Prügel. Weinen und Wimmern animierten ihn nur noch fester zuzuhauen. Sein Sohn jammerte leise, fast lautlos. Er war es schon gewohnt! Seine Mutter hatte uns natürlich verraten.
Ich vermisste meine Mutter in dieser Zeit mehr als je zuvor und fragte mich, warum sie das zugelassen hatte. Auf Besuch fragte sie zwar nach meinen vielen blauen Flecken, aber gab sich mit der Antwort zufrieden, es sei beim Spielen passiert. Ein Jahr musste ich bei der Familie bleiben. Ein Jahr war ich ihnen ausgeliefert. Ich denke nur dem Umstand war es zu verdanken, dass meine Mutter noch einmal geheiratet hatte und ich so dort rauskam. Ihr neuer Freund, ein Angestellter bei einer Krankenkasse im mittleren Dienst, Beamter, meinte es besser mit mir. Statt Pflegefamilie sollte ich nun in einem Internat meine »Erziehung genießen«. Zu diesen Zeitpunkt war ich noch katholisch geeicht. Mit sieben Jahren ging nun meine Reise weiter. Statt nach Hause ging es in ein katholisches Wohnheim mit Nonnen. Gürtel haben die Nonnen nicht am Gewand, das wusste ich, aber sonst keine Ahnung was mich dort erwarten würde.
Beten, Bertram, Umzug und Umtaufe
Der Hölle in Schondorf entflohen, kam ich nun in die Obhut der katholischen Kirche. Dort gab es andere Prioritäten. Beten, beten und nochmals beten. Doch vorab lernte ich nebst der Hausordnung, dass es noch eine andere gab. Eine Hackordnung. Regel Nummer 1: Leg dich mit niemandem an, den du nicht selber umhauen kannst. Zuvor kam ich nie in solche Situationen. Generell hatte ich nach der Pflegefamilie von Gewalt ziemlich die Schnauze voll.
Es gab verschiedene Kindergruppen, die nach Alter aufgeteilt waren. Ich war in die Gruppe der 7- bis 11-Jährigen eingeteilt. Jede Gruppe hatte seine Aufseherin. Meine hieß Schwester Elisabeth. Weiße Haube, graues Kleid. Eine ältere Frau. Sie hatte so viele Falten im Gesicht, dass ich nie sah, ob sie zufrieden war oder gar lächelte, wütend oder böse war. Einzig und allein an ihrem Ton oder ihren Augen konnte man kleine Gefühlsregungen erahnen. Streng war sie auf jeden Fall. Sie stand beim Beten immer hinter mir und korrigierte meine Körperhaltung. Sie nannte es Körpererziehung. Ich stand aber eher steif - verkrampft - als demütig, kerzengerade da.
Welcher Wind wehen würde, sollte ich gleich zu Anfang spüren. Als ich im Speisesaal Platz nehmen wollte, spürte ich plötzlich einen kräftigen Stoß von hinten, der mich zu Boden schleuderte. Als ich aufsah, sah ich, dass der Typ groß war. Wirklich groß. Mehr Zeit hatte ich nicht für die erste Einschätzung. »Hast du was gesagt?«, fragte er mich mit erhobener Stimme. Mir sackte das Herz sofort in die Hose, es ging ein Raunen durch die herumstehenden Zeugen, das konnte ich noch hören, aber alles andere um mich herum schien wie erstarrt. Als hätte jemand die Zeit angehalten und mich gelähmt. Es wurde plötzlich so still, dass ich glaubte das Holz an der Decke knacksen zu hören. Mir wurde kalt, meine Hände zitterten. Sollte ich vom Regen in die Traufe gekommen sein? Plötzlich packte mich jemand von hinten an der Schulter und richtete mich wieder auf. Er sah mich an und sagte zischend: »Kein Wort!«
Gerade war Schwester Elisabeth im Anmarsch. Sie fragte: »Was ist hier los?«
Ich glaube der Typ hieß Bertram. »Ich habe mich nur mit dem Neuen bekannt gemacht«, sagte Bertram. »Ab auf deinem Platz!«, zischte Schwester Elisabeth. Sie fragte mich was los sei. Bertram blickte zurück, ich nickte: »Alles in Ordnung!«
Die anderen hatten sich bereits hingesetzt. Auf den Tischen standen jeweils zwei Eisenkannen mit kaltem Tee, ovale Platten mit Aufschnitt, geschnittenen Broten, Butter und portionierter Marmelade. Zum Essen war mir aber nicht zumute. Noch schlimmer fühlte ich mich als Bertram mich ertappte, dass ich ihn anstarrte. Auf den musst du aufpassen, sagte ich mir. Ich trank ein Glas Tee von gefühlten zigtausend in dieser Zeit. Lauwarmer