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mich nach wie vor in der Burghalle. Doch dieses Mal schwebe ich wie eine Wolke über dem Kamin. Ich spüre meine physische Auflösung, wie ich zu Asche werde. Und da sehe ich sie - die Person, die mich ins Feuer gestoßen hat. Es ist meine Mutter.

      Der Schreck sitzt tief. Ich erlaube mir nicht den Gedanken, meine Mutter könnte Tötungsabsichten gehabt haben. Das ist ja unfassbar. Aber mein Körper weiß es besser. Er reagiert. Alles Blut weicht aus meinen Extremitäten, und sogar aus meinen Lippen, die sich nun zu einem stummen Schrei formen. Genau in diesem Augenblick sehe ich das Bildnis von Edward Munch „Der Schrei“ vor mir. Irgendwie geschieht alles gleichzeitig, nehme ich alles in ein und demselben Moment wahr. Sogar meinen Körper, der inzwischen wie ein toter Fötus starr am Boden liegt.

      Dieser Verlauf meines Prozesses beunruhigt den Schamanen-Novizen. Besorgt steigt er vom rosafarbenen Sofa herab. Er legt sich verzweifelt auf mich, um meine Gliedmaßen zu strecken. Ihn beunruhigt meine körperliche Verkrampfung, die weder erwartet noch erwünscht war. Gefahr ist im Verzug.

      „Stopp! Komm zurück. Breche die Reise ab! Bitte komm zurück“, ruft er aus.

      Zu spät. Ich kann diesen rituellen Sterbeprozess nicht unterbinden. Da erschlaffe ich plötzlich mit einem Schlag. Mein Bewusstsein ist frei. Nun umhüllt mich eine samtene Dunkelheit, die mich geborgen fühlen lässt. Alles ist so friedlich. Diese Stille in mir ist wundervoll. Ich bin ohne Angst und Schmerz. Ich bin klar.

       (22) „Denn das Feuer wie die Flamme symbolisieren ebenso die Kraft des Geistes und einer geistigen Welt.“

      Und dann sehe ich sie. Ich sehe zuerst eine andere Treppe, die sich unendlich nach oben zu winden scheint. Danach bemerke ich auf der untersten Stufe links den schwarzen Panther und rechts den Löwen. Wie Torwächter sitzen sie da, auf mich wartend. Ich bin fasziniert von ihrem Anblick. Ich habe diese beiden Raubkatzen nicht erwartet. Neugierig beobachte ich sie aus einer gewissen Distanz. Der Panther schaut zurück. Der Löwe indes dreht seinen Kopf zur Seite, als sei er beleidigt.

      „Bitte komm zurück“, dringt die Stimme des Schamanen-Novizen an mein Ohr. Er ist zurück auf dem rosafarbenen Sofa und beobachtet von dort meine Reaktionen auf die Rückführung. Er fürchtet wohl, ich könnte mich mit meiner Traumseele in der nichtalltäglichen Wirklichkeit verlieren. Seine Sorge ist begründet. In der Tat möchte ich am liebsten bei den Raubkatzen bleiben, mit ihnen die Treppenstufen hinaufgehen. Ich will doch nichts sehnlicher, als eine neue Welt betreten. Außerdem fühle ich mich in diesem Zustand so geborgen. Ich mag nicht in meinen Körper zurück. Aber etwas in mir drängt zur Rückkehr. Es ist nicht gut, zulange außerhalb seines Körpers zu sein. Mit einem schweren Seufzer werfe ich einen letzten Blick auf die beiden kraftvollen Tiere. Ich muss mich wohl verabschieden. Ich sollte den Schamanen-Novizen nicht länger ängstigen. Als mir ein zweiter Seufzer entweicht, bewegen sich meine Augenlider bereits wie die Flügel eines Schmetterlings im Schwirrflug. Schließlich lassen sie sich öffnen. Der Novize springt aufgeregt vom Sofa.

      „Wie geht es dir?“, fragt mich sogleich.

      „Gut! Ich fühle mich herrlich ausgeglichen“, antworte ich lächelnd.

      Anschließend dehne ich meine Gliedmaßen, die von der langen Traumreise ganz steif geworden waren. Der Professor stürmt ins Wohnzimmer. Er musste während meiner Session mit dem Hund des Novizen in der Küche ausharren und weiß nichts.

      „Und? Wie war es?“, fragt er sogleich neugierig.

      Ich lächle ihn geheimnisvoll an. Eigentlich ist mir nicht zum Reden zumute.

      Noch lange danach strömt eine nie gekannte Kraft in mich zurück. Sie zaubert mir ein inneres Lächeln auf die Lippen. Was auch immer passiert war, es war gut. Ich möchte unbedingt so lange wie möglich diesen inneren Frieden genießen, der sich seit dem eingestellt hat. Deshalb lasse ich mir mit der Analyse Zeit. Es ist nicht immer ratsam, gleich alles kognitiv aufzuarbeiten. Manchmal sollte man abwarten, bis sich die neuen Schwingungen im Energiefeld manifestiert haben.

      Es vergehen noch etliche Wochen, bis ich mir das große Buch der Traumsymbole für die Entschlüsselung der vielen Traumfiguren und -metaphern zur Brust nehme. Glücklicherweise findet sich darin fast alles, wie zum Beispiel das Feuer und das Burgschloss. Für die restlichen Symbole, unter anderem der Prinz, die Prinzessin oder die Königinmutter, google ich im Internet. Endlich gelingt mir die Entlarvung eines meiner ersten und schwerwiegendsten Traumen. Der wahre Grund für den zersetzenden Fremdkörper in meiner Psyche. In meiner Rückführung reinigte sich im Feuer meine Seele symbolisch von diesem mütterlichen Täterintrojekt. Mein Schicksal wurde bereits im Bauch meiner Mutter besiegelt. Ihre Ablehnung, ihr Tötungsversuch, unsere traumatische Mutter-Kind-Beziehung legte den Grundstein für das sexuelle Trauma. Auch denke ich inzwischen, dass sie Schuld an meinem inkompletten Rechtsschenkelblock ist.

      Ich habe ihren Anschlag auf mein Leben überlebt. Dennoch bildete sich in meinem Nervenzell-Netzwerk eine Art Kapsel, die die mit der Tötung verbundene negative Emotion sowie andere bedrohliche Erfahrungsinhalte einschloß. Mutterkomplex. Was als eine Schutzfunktion gedacht war, entpuppte sich zu einem Problem, das mich mein Leben lang verfolgte. Meine Träume wollten mich all die Jahre auf diese geballte Ladung psychischer Energie aufmerksam machen, bevor sie wie eine Bombe explodiert und mich eventuell in eine endogene Psychose führt.

      Meine innere Heilerin griff für die innere Kommunikation auf eine universelle Sprache zurück. Die Sprache der Seele, die aus Bildmetaphern besteht. C. G. Jung decodierte diese Bildrätsel mithilfe der nordamerikanischen Schamanen.

      Neben all den schulischen Examen, die ich im Laufe meines Lebens bestehen musste, war meine schwerste Prüfung, die Lizenz für Traumarbeit zu erlangen.

      Nach circa zehn Jahren mühsamer Analyse meiner Traumbilder, unter anderem der schwarze Panther, die schwarze Tarantel, das Burgschloss, das Feuer und die Explosionen, dunkle Labyrinthe und Leichen im Keller, aber auch allesfressenden Krokodile, schloß ich mit der Rückführung erfolgreich eine meiner Lebensaufgaben ab.

      Tatsächlich entdecke ich in der Aufarbeitung meiner sogenannten Rückführung, dass diese im engeren Sinne meine erste schamanische Reise war. Ich lenkte meine Seelenflucht in eine Rückkehr um. Ich entsandt, wie es typisch bei Schamanen ist, meine Traumseele in die nichtalltägliche Wirklichkeit, um mit neuen Erkenntnissen und vitalisierter Lebenskraft in die alltägliche Realität zurückzukehren.

      Bei diesem wichtigen Heilprozess war mir die Traumfigur Alma Mater als Ichstärkende mütterliche Instanz und in ihrer Verkörperung als Künstlerin behilflich.

      Warum mir ausgerechnet die Traumfiguren Vater und Oma väterlicherseits mir bei der Aufdeckung meines Mutterkomplexes helfen konnten, wird mir durch eine Familienanamnese verständlich.

      Mein Papa litt seit seinem sechsten Lebensmonat unter Deprivation, denn er verlor seine 19-jährige Mutter bei einem Autounfall. Er musste, wenn auch aus anderen Gründen, viel zu früh seine Mama entbehren. Er bekam gleichermaßen weder ausreichend Mutterliebe noch Muttermilch für eine gesunde psychische Entwicklung. Auch mein Vater litt sein Leben lang am Mutterkomplex; und später, ab dem dritten Lebensjahr, an inzestuösen Handlungen seines Großvaters mütterlicherseits.

      „Du siehst wie deine Großmutter aus“, sagte er zu mir und meinte seine Mama.

      Ich frage mich, ob seine perverse Handlung an mir eine Kompensation war. Ein verzweifeltes Kleinkind auf der Suche nach Wärme und Liebe seiner verloren gegangenen Mutter. Ich weiß es nicht. Ich bin froh, dass mich meine Inzest-Erfahrung nicht zu einer Sexualtäterin machte.

      Seit der Rückführung bin ich entschlossener denn je, dieses virale Gift in meinem Körper und Geist zu neutralisieren. Ich bin bereit, dafür zu sterben. Sind es doch rituelle Tode, fernab vom Suizid. Aber dazu brauche ich Mut, viel Mut. Da kommt es mir wie gerufen, dass ich einen Kontakt zu meinen Tierahnen herstellen konnte. Intrinsische Ressourcen. Seit der Rückführung, also meiner ersten schamanischen Reise, sind sie für mich ständig sichtbar, sobald ich meine Aufmerksamkeit nach innen lenke.

       (23) „Dass die Hilfsgeister der Schamanen mehrheitlich tiergestaltig sind, kann auf die psychische Ebene symbolisch übersetzt auch bedeuten,

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