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vorbeiziehen, um Werbung für die Kanzlei zu machen. Diese war erst kürzlich in das neue alte Haus, welches sein Steuerberater Sepp Birkner erworben und renoviert hatte, eingezogen. Alles neu und offensichtlich teuer, also benötigte man viele oder wenige, aber dafür ertragreiche Aufträge. Alex Kanst überlegte kurz und beschloss dann doch dankend abzulehnen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als heute im Penthaus zu schlafen und in die Unterstadt zu laufen, um an einem Gottesdienst teilzunehmen. Mit einem Bier im Blut würde er nicht mehr Auto fahren.

      Ein weiteres Prinzip, das er nicht auch noch zu brechen gedachte. Und dann benötigte er noch unbedingt Sex. Sein Blick blieb am Po der Bedienung haften.

      „Ein anderes Mal vielleicht!“, dachte er und winkte diese zu sich, um zu bezahlen.

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      Der Nachmittag verlief schleppend und trotz des Bieres fühlte sich Alex nicht so richtig auf der Höhe. Er hatte den starken Verdacht, dass eine Grippe oder seine jährliche und wirklich verhasste Bronchitis im Anmarsch waren.

      Egal, beides wäre nicht gut. Dazu kam, dass er heute wieder keinen Sex haben würde, da er ja noch in eine Kirche musste und sich deshalb nicht verabreden konnte. Zu allem Überfluss hatte Tina heute, gerade heute, eine Stunde früher Feierabend gemacht.

      Natürlich hatte sie mehr als genug Überstunden, aber er fühlte sich komisch allein. Die Anliegen der zwei Nachmittagspatienten hatte er gar nicht wahrgenommen und seine Standardsprüche aufgelegt.

      Endlich, der Letzte war weg und nun war es sehr ruhig. Zu ruhig für ihn, zumindest heute. Auch war es an einem so trüben Tag bereits nach 15 Uhr dunkel geworden. Er als Psychiater wusste, was dies für die Psyche bedeuten konnte. Trübsal!

      Doch eigentlich war er immun dagegen. Doch nicht heute! Es kribbelte ihn am ganzen Körper als versuchte sich sein Geist gegen das drohende Unheil zu stemmen. Melancholisch sah er zur Uhr, welche über dem Arbeitsplatz von Tina bereits 18.05 Uhr anzeigte.

      „Gut, dass ich doch die vier Maultaschen genommen habe!“, dachte er, als er sich innerlich von einer guten schwäbischen Vesper verabschiedete. Er warf die Fließjacke über und wollte gerade aus der Praxis rennen, als ihm auffiel, dass er ja das Wichtigste vergessen hatte:

      Sein Gotteslob!

      Er wollte aus keinem anderen Buch den Lieder folgen, singen konnte man seine Aneinanderreihung von Lauten wahrlich nicht nennen. Dr. Kanst war der Inbegriff eines unmusikalischen Menschen. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, zumindest so zu tun, als sänge er. Aus seinem Buch! Aus seinem weinroten Gotteslob mit Goldschnitt. Auch wenn es diesen ja eigentlich nicht mehr gab, seit es vor vielen Jahren einmal darüber geregnet hatte.

      Egal, es war sein eigenes, dass er von seiner Mutter zu seiner ersten heiligen Kommunion geschenkt bekommen hatte. Darin bewahrte er alle Bildchen auf, die man so im Laufe der Jahre, vor allem bei Beerdigungen, als Erinnerung bekommen hatte.

      Das Gotteslob lag immer in der obersten rechten Schublade seines Schreibtisches.

      „Himmelherr …!“ Gerade konnte er noch einen Fluch unterdrücken. Eigentlich hasste er ja das Fluchen, doch ab und an entglitt auch ihm einer der schönsten schwäbischen Flüche, wofür er sich aber immer sofort danach hasste. Auch wäre ein Fluch vor einem Kirchenbesuch sicher nicht das Richtige.

      Kein Gotteslob im ganzen Schreibtisch. Irgendjemand, also Tina, musste mal wieder aufgeräumt haben, und da er dieses Gotteslob ja vielleicht vor, ja sagen wir mal, zehn Jahren gebraucht hatte, war es jetzt „aufgeräumt!“

      Sehr missmutig trabte Dr. Kanst am Tresen vorbei, wo die Uhr bereits 18.18 Uhr zeigte, als das Telefon klingelte.

      „Geschlossen!“, rief er, als könnte dies der Anrufer hören. Doch das konnte dieser nicht und das Telefon hörte auch nicht auf zu läuten. Tina hatte vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten.

      Gut, dann ließe er es halt klingeln, wenn, ja wenn da nicht seine Neugierde wäre:

      „Praxis Dr. Kanst!“

      „Hallo!“

      „Hallo!“

      „Du bist ja echt schwer zu erreichen, wo bist du nur?“

      „In der Praxis, du hast ja die Nummer gewählt!“

      „Ja, ich meine gestern!“

      „Nicht in der Praxis, da war ja Sonntag!“

      „Ja, aber in Onstmettingen warst du auch nicht, bist ja nicht an das Telefon gegangen!“

      „Ich bin in Eile!“

      „Immer bist du in Eile! Hast du noch Patienten?“

      „Nein, aber …“

      „Ja dann hast du doch fünf Minuten Zeit für deine Mutter!“

      „Mama, was gibt es?“

      „Ich wollte nur fragen, wie machen wir es?“

      „Was?“

      „Ja, du weißt doch, wie wir es das letzte Jahr gemacht haben, also wie machen wir es dieses Jahr?“

      „Wa-as?“

      „Na das mit dem Heiligen Abend! Wir wären dann bei deinem Bruder!“

      „Gut, dann wissen wir ja jetzt, wie wir es machen!“

      „Aber bist du dann nicht allein?“

      „Nein, bestimmt nicht!“

      „Dann hast du wieder eine feste Freundin, ja! Bringst du diese mit, wenn wir am ersten Weihnachtsfeiertag essen gehen?“

      „Wir gehen essen?“

      „So haben wir es doch immer gemacht!“

      „Gute Nacht, Mama!“ Alex hatte aufgelegt. Die Uhr zeigte 18.38 Uhr.

      „Himm … mmmmmmm!“ Dr. Kanst unterdrückte abermals einen Fluch und rannte, da ihm der Glasaufzug zu langsam erschien, die Treppe hoch. Rechts neben der Penthouse-Wohnung befand sich das Archiv. Dort vermutete er sein Gotteslob. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er auch den passenden Schlüssel gefunden und aufgeschlossen.

      Da! Da lag es, Gott sei Dank noch nicht archiviert. Jetzt schnell die Praxis schließen und dann los, er musste ja zu Fuß gehen, wegen dem Bier und den Grundsätzen.

      Licht aus, Tür zu: Halt! Er hatte mit dem Hauptschalter das Licht in der ganzen Praxis ausgeschaltet, doch etwas leuchtete noch in Blau! Schnell machte er das Licht wieder an und da sah er das Problem. Darth Vader alias Arsi stand auf dem Tresen, umrahmt von fünf blauen Kerzen. Tina hatte vergessen, diese auszumachen, oder?

      Stand die Figur nicht noch vorhin hinter dem Tresen unter der Uhr? Und da brannten doch keine Kerzen, oder? Er war nur kurz oben und hatte die Tür zur Praxis offengelassen.

      Egal, die Haustür war ein Wunderwerk der Sicherheit. Also löschte er die Kerzen und knipste das Licht aus. Darth Vader ließ er stehen, bis morgen! Dann müsste er darüber diskutieren, was zu tun ist. Er möchte natürlich keine Heiligenfigur auf dem Tresen, aber er respektierte Tina sehr und deshalb wollte er keine Entscheidung über ihren Kopf hinweg treffen.

      Es war 18.45 Uhr, als er auf den Kirchplatz durch die große Glasfront des alten Fachwerkhauses trat.

      Nebel und ein kalter Hauch, als wäre es der Atem des Todes, schlugen ihm ins Gesicht. Instinktiv zog er den Reisverschluss seiner Fließjacke bis nach oben zu und setzte sich eine Fließmütze auf. Er musste sich jetzt sputen. Rechts am Rathaus vorbei, die Treppe runter, dann kurz am alten Schloss vorbei durch den unteren Turm und dann die Steige hinunter. Als er keuchend an der Johannesbrücke stand, traute er seinen Augen nicht:

      Die Spittel Kirche lag im Dunklen!

      Dennoch parkten überall, und wie er feststellte kreuz und quer, Autos. Jetzt war er schon fast froh, dass er ein Bier getrunken hatte, sonst wäre er bestimmt auch gefahren. Doch einen Parkplatz hätte er wohl nur in seiner Tiefgarage gefunden.

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