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erzählte.

      Man konnte kaum etwas verstehen, weil der Wind im Mikro Knattern und Rauschen verursachte. Aber Helle war eigentlich auch egal, was der Typ sagte. Er referierte über die Bewegungen der Wanderdüne, wann sich Råbjerg Mile von wo nach wo verschob. Das interessierte sie viel weniger als die Tatsache, dass Ingvar hier in seiner Station in Fredrikshavn auf dem modernsten Stand der Technik war – für ihn offenbar ein Buch mit sieben Siegeln –, ihr aber Laptops und neue Computer verweigert wurden.

      Nach der Video-Einspielung sprach Ingvar noch ein wenig davon, dass man nichts wisse, nichts wissen konnte und folglich auch nicht ermitteln konnte. Dann fasste ein Kollege all die Anrufe zusammen, die bei den Polizeistationen eingegangen waren, seit die Meldung über den Ticker gelaufen war. Natürlich war nicht ein einziger wirklich sachdienlicher Hinweis dabei.

      Helle schaltete ab und blickte aus dem Fenster. Sie dachte, wie dumm jemand sein musste, wenn er die Leiche im Westen der Düne vergraben hatte. Jeder, der in der Umgebung wohnte, wusste, dass sich die Düne nach Osten bewegte. Wenn man also wollte, dass der Körper in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr aus dem Sand auftauchte, hätte man die Leiche am Ostrand der Düne verbuddeln müssen, dort, wohin sich Råbjerg Mile Jahr für Jahr um fünfzehn Meter verschob.

      Das ließ nur drei Schlüsse zu: Die Leiche müsste entweder seit mehr als zwei Jahrhunderten dort stecken, nämlich seit einer Zeit, als an der Stelle noch keine Düne gewesen war. Dagegen sprach der Anorak. Oder der Mörder war nicht von hier. Last but not least: Es gab keinen Mörder, sondern es war ein schrecklicher Unfall gewesen.

      »Helle?«

      Ingvars Stimme, lauter als zuvor, riss sie aus ihren Gedanken. Alle im Raum hatten sich zu ihr umgedreht und starrten sie an. Helle starrte zurück.

      »Fünfzehn Uhr. Pressekonferenz.« Ihr Chef am anderen Ende des Raumes tippte ungehalten auf seine Armbanduhr. »Ist das klar?«

      Sie zuckte mit den Achseln. »Von mir aus. Muss ich dabei sein?«

      Vereinzelte Lacher und genervtes Gestöhne einiger Kollegen.

      »Du leitest die Sonderkommission ›Düne‹. Ich denke, du solltest dabei sein.« Verärgert steckte Ingvar einen Stift in seine Brusttasche und verließ als Erster den Raum, ohne sie noch einmal anzusehen.

      Es hätte ein großer Moment für sie werden sollen, ein Triumph, Genugtuung, so hatte Helle es sich vorgestellt. Stattdessen hatte sie den großen Moment verpasst, indem Ingvar verkündet hatte, dass nicht er – wie alle erwartet hatten –, sondern Helle Jespers aus Skagen die Sonderkommission leiten würde. Jetzt spürte sie einen Stich in ihrem verräterischen Herzen, als sie ihren ehemaligen Mentor abserviert aus dem Raum gehen sah.

      War sie zu weit gegangen?

      Aalborg

      Innentemperatur 22 Grad

      Elins Hände waren schweißnass, während sie über die Tasten huschten. Sie konnte nicht aufhören, nach neuen Schlagzeilen zu suchen. Immer und immer wieder aktualisierte sie die Google-Seite, klickte sich durch die News, die sie schon auswendig kannte. Aber es gelang ihr nicht, mehr zu erfahren. Überall die gleichen Informationen, die Polizei schien nicht viel zu wissen.

      Mehr würde sie im Moment nicht erfahren. Heute nicht, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis man herausgefunden hatte, wer die Leiche in Råbjerg Mile war.

      Angeblich wusste die Polizei noch nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.

      Elins Herz pochte. Pochte so laut, dass sie meinte, es hören zu können. Vielleicht war sie es ja gar nicht? Vielleicht spuckte die Wanderdüne alle paar Jahre eine Leiche aus? Konnte das nicht sein?

      Wie gerne hätte sie daran geglaubt, aber Elin wusste, dass dem nicht so war. Die Wanderdüne war kein Friedhof.

      Råbjerg Mile war das Grab von Imelda.

      Es konnte nur Imelda sein, die man gefunden hatte. Es hatte gar keinen Sinn, das zu leugnen, es war die Stelle, die Kieran beschrieben hatte. Die Stelle, an der sie seitdem immer und immer vorbeigegangen war, um nachzusehen, ob man etwas erkennen konnte. Ob Imelda sich zeigte.

      Aber es war wie ein später Triumph, dass sie sich erst offenbarte, als alle sie schon fast vergessen hatten.

      Als die Spuren vernichtet, die Erinnerung getilgt war.

      Als Elin alles geregelt, sogar das Unbehagen von Sven zerstreut hatte.

      Imelda hätte gesagt, dass das ein Zeichen aus dem Reich der Toten war. Sie hatte an alle möglichen Götter und Dämonen geglaubt.

      Sie hatte aber nicht daran geglaubt, dass die Götter sie beschützen würden. Deshalb wollte sie zur Polizei gehen.

      Elin sah noch immer, wie Imelda das Haus verlassen hatte. Wütend. Sie hatte versucht, sie aufzuhalten, aber Imelda war fest entschlossen gewesen.

      Was hätte Elin schon ausrichten können? Sie war so schwach. Und so hatte sie Kieran angerufen.

      Er sollte das in Ordnung bringen.

      Imelda zurückholen.

      Mehr nicht.

      Niemand hatte gewollt, dass das passierte.

      Würde die Polizei herausfinden können, wie lange der Körper schon im Sand verborgen war?

      Elin hätte es ihnen sagen können.

      Auf den Tag genau.

      Jetzt drückte sie eine Valium aus dem Blister und spülte sie mit dem Latte macchiato runter. Das Schlucken fiel ihr schwer, ihr Hals war trocken. Ihr Körper aber war nass, kalter Schweiß, überall. Und das Herzrasen. Sie hätte sich keinen Kaffee machen sollen. Aber sie war nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, seit sie die Nachricht gelesen hatte.

      Was sollte sie tun? Konnte sie etwas tun? Sie musste noch einmal mit Kieran reden. Oder mit ihrer Schwester?

      Nein. Elin schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall. Es war ein Geheimnis zwischen ihr und Kieran. Und das musste es bleiben. Niemand durfte erfahren, dass sie wusste, dass Imelda sich dort im Sand verbarg.

      Am allerwenigsten Sven.

      Bei dem Gedanken an ihren Mann wurde Elin augenblicklich schlecht. Sie schaffte es gerade noch ins Bad und beugte sich über das Waschbecken. Würgte. Da kam nicht mehr viel, nur noch Kaffee und Galle.

      Elin sank auf den Badvorleger. Sie drückte ihre heiße Stirn an das kalte Porzellan der Kloschüssel.

      Seit heute Morgen, seit sie die Eilmeldung auf ihrem Smartphone gesehen hatte, hing sie über dem Waschbecken. Dazu der kalte Schweiß. Und ihre Stirn so glühend heiß.

      Sven hatte sich natürlich Sorgen gemacht, als er sie in dem Zustand gesehen hatte, er hatte befürchtet, Elin würde ihn oder den Kleinen anstecken. Deshalb hatte er ihn zu seiner Mutter gebracht. Elin hätte gerne protestiert, aber sie war zu schwach, zu konfus, und sie wusste natürlich, dass Sven recht hatte.

      Wie immer.

      Im Moment war sie froh, dass ihr Sohn nicht hier war, sie hätte sich mit ihm beschäftigen, mit ihm spielen, spazieren gehen müssen. Ihm etwas kochen, ihn füttern, vorlesen. Dazu war sie nicht in der Lage. Aber sie vermisste ihn. Ganz fürchterlich vermisste sie ihn. Sobald sie sich einigermaßen eingekriegt hatte, würde sie ihn abholen.

      Elin schloss die Augen und dachte an das weiche, glänzende Haar ihres Sohnes. Am Anfang hatte er nicht viel mehr als Flaum auf dem Kopf gehabt, aber jetzt wuchsen die schwarzen Haare, sie wurden richtig dicht. Und glänzten. Sie musste ihm ständig über den Kopf streicheln, so stolz war sie auf ihn. Das wundervolle Haar, die großen runden Augen, sein glucksendes Lachen. Der erste Zahn!

      Er war ein Wunder. Ihr Sohn.

      Bertram bedeutete alles für Elin. Für ihn würde sie töten.

      Könnte Sven ihn doch auch so lieben, wie sie es tat. Manchmal beobachtete sie Sven, wie er ihren Sohn

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