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achtziger Jahre waren für mich eine prägende Zeit. Meine damaligen Erlebnisse machen mir die heutigen Entwicklungen überhaupt erst verständlich. Es mag sein, dass jene, denen die Erfahrung fehlt, fremd in einem Land zu sein, nur schwer nachvollziehen können, was gerade in Deutschland passiert. Wenn wir uns heute mit dem Problem der Neuen Rechten und dem damit verbundenen unübersehbaren Rechtsruck in der Gesellschaft beschäftigen, mag man das Gefühl haben, als sei der Rassismus und die zunehmende Stigmatisierung von Migranten mit der sogenannten »Flüchtlingskrise« geradezu vom Himmel gefallen. Dem ist nicht so. Anhand meiner persönlichen Erfahrungen kann ich zwei Phasen bestimmen: Die Entwicklungen vor dem Sommermärchen und die Entwicklungen nach dem Erscheinen von Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab.

      In den achtziger und neunziger Jahren war Deutschland geprägt von einer anderen Art von Rassismus, die sich deutlich von der heute unterschied. Der Rassismus in meiner Kindheit hatte ein klar erkennbares Gesicht: Er trug Bomberjacke, Springerstiefel und hatte eine Glatze. Er war brutal und geächtet. Niemand, wirklich niemand wollte etwas mit Neonazis zu tun haben. Dabei ist Rassismus immer Rassismus, er kennt keine Abstufungen. Wenn heute oft beschwichtigend von »Alltagsrassismus« die Rede ist, soll das lediglich der allseitigen Beruhigung dienen. So können sich zum einen die Täter gegenüber den vermeintlich »wirklichen« Rassisten abgrenzen, zum anderen ist es aber oft auch ein Selbstschutz der Opfer, den erlebten Rassismus herunterzuspielen, um das eigene Leben nicht unerträglich zu machen. Menschen, die in den letzten Jahren bei Demonstrationen Seite an Seite mit Neonazis liefen, waren wahrhaftig verwundert, wenn man ihnen stillschweigende Akzeptanz vorwarf. Wer hingegen in den Achtzigern und Neunzigern auf einer Neonazidemo mitlief, war mit Sicherheit eins: ein Neonazi.

      Mit meinem Umzug nach Deutschland änderte sich auch mein Geburtsdatum. Aus dem 31. Farwardin 1360 des iranischen Kalenders wurde der 20. April 1981. Nach fünf Flugstunden befand ich mich gute 600 Jahre in der Zukunft und hatte plötzlich am selben Tag Geburtstag wie Hitler. Was heute eher wie ein Fun Fact wirken mag, war in den achtziger Jahren in Hamburg-Eidelstedt nicht so witzig. Meinen Eltern wurde geraten, den Geburtstag vorerst nicht zu feiern, da es in der Umgebung eine Neonaziszene gäbe, die an diesem Tag möglicherweise den »Führergeburtstag« beging, und es einfach besser wäre, »die Augen etwas offener« zu halten, was auch immer das genau heißen sollte. Für Michel und seine Freunde gab es dann eben keine Schnitzeljagd, was nicht so dramatisch war, da der Geburtstag in der iranischen Kultur keinen besonders hohen Stellenwert hat.

      Dafür gewannen zwei Wörter, die ich erst jetzt, über 30 Jahre später, bewusst übersetze, eine große Bedeutung: Panahandeh und Nejadparast, Flüchtling und Rassist, oder wie es in den Achtzigern hieß: Asylant und Neonazi. Als Kind waren mir beide Begriffe fremd. Panahandeh klang ähnlich wie Panahgah, was im iranischen Radio häufig vor Luftangriffen zu hören war: Man forderte die Menschen auf, eben diese Schutzbunker aufzusuchen. Das Wort wirkte deshalb nicht gerade positiv auf mich. Ein Panahandeh wollte ich nicht sein. Das waren die Leute, die in diesen Heimen lebten, wie mein Onkel mit seinen drei Kindern, die wir immer dort besuchten. Das waren diese komischen, dunklen Räume, die durch Vorhänge voneinander getrennt waren, mit Gemeinschaftsküchen und Toiletten auf dem Flur. Das waren diese langen Busfahrten zu Orten am Stadtrand, die ich nicht mochte, bei denen ich aber immer mit musste, damit ich übersetzen konnte, falls man auf der Straße angesprochen wurde oder etwas brauchte: Bustickets kaufen, Lebensmittel identifizieren, Beipackzettel vorlesen, mit zum Arzt gehen. Keine Ahnung, was Milz und Gebärmutter waren, ich war ja erst sechs, aber wir versuchten alle, das Beste rauszuholen:

      »Hatten Sie schon irgendwelche Operationen in Ihrem Leben?«

      »Hattest du schon irgendwelche Operationen in deinem Leben?«

      »Ja.«

      »Ja.«

      »Welche?«

      »Welche?«

      »Man hat mir die Milz entfernt.«

      »Er sagt, ihm wurde etwas entfernt.«

      »Kann er draufzeigen?«

      »Kannst du draufzeigen?«

      »Hat er zwei davon?«

      »Onkel, hast du zwei davon?«

      »Nein.«

      »Nein.«

      »Die Milz.«

      »Die Milz.«

      Milz. Komisches Wort. Dann kam die Oma dran.

      »Und wurden Sie auch schon mal operiert?«

      »Wurdest du auch schon mal operiert?«

      »Ja.«

      »Ja.«

      »Was wurde gemacht?«

      »Was wurde gemacht?«

      »Ich hatte Steine in der Gallenblase.«

      »Oma, du hattest Steine in dir?«

      »Übersetz das bitte einfach, der Arzt wird es verstehen.«

      »Sie sagte, sie hatte Steine.«

      »Ach, die Gallenblase. Alles klar.«

      Gallenblase, komisches Wort.

      »Noch etwas?«

      »Noch etwas?«

      »Ja, die Gebärmutter wurde mir entfernt.«

      »Ihr wurde etwas entfernt.«

      »Was wurde ihr entfernt?«

      »Was wurde dir entfernt?«

      »Die Gebärmutter.«

      »Sie sagt ein Wort, das ich nicht kenne. Hört sich an wie der Vorname von meinem Onkel.«

      »Kann sie draufzeigen?«

      »Zeig drauf.«

      »Wann wurde es entfernt?«

      »Wann wurde …, wie hieß das Wort noch mal? Wann wurde das entfernt?«

      »Ach, schon lange her.«

      »Schon lange her.«

      »Kann sie es umschreiben?«

      »Kannst du es bitte umschreiben.«

      »Nun, naja, da wo die Kinder drin sind.«

      »Wo wer drin ist?«

      »Die Kinder.«

      »Was machen die Kinder da? Du hattest Steine und Kinder in dir?«

      »Übersetz einfach, der Herr Doktor wird es verstehen.«

      »Herr Doktor, da sind Kinder drin und das wurde ihr entfernt.«

      Arzt und Oma schauten sich an, meine Oma lächelte verlegen, beide nickten.

      »Die Gebärmutter.«

      Gebärmutter, was für ein komisches Wort.

      Wir guckten uns alle an. Wieder einen dieser seltsamen Termine geschafft.

      Meine Eltern sind bis heute übrigens sehr stolz darauf, dass sie nie einen Asylantrag gestellt haben. Sie bezeichnen sich als Immigranten, die beschlossen haben, nach Deutschland auszuwandern und von Anfang an dafür arbeiten mussten. Sie haben nie aufgegeben, nie die Hand aufgehalten. Ich bin sicher, dass viele auch heute lieber diesen Weg gegangen wären und gehen würden, doch leider ist es der deutsche Staat, an dem das Unterfangen scheitert, nicht der eigene Wille. Der Kampf um Papiere und Arbeitserlaubnis ist lang und hart. Viele dieser Menschen kommen nicht mit der Absicht hierher, um ihre Hand für Hartz IV aufzuhalten. Nur haben sie manchmal keine andere Wahl. Asylantrag ja, Arbeitserlaubnis nein. Was dann? Das wird in vielen Diskussionen oft vergessen. Man könnte die Betroffenen in Talkshows einladen und mit ihnen über ihre Sorgen und Probleme sprechen – oder man redet einfach weiter über sie.

      Конец

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