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Deutschland schafft mich. Michel Abdollahi
Читать онлайн.Название Deutschland schafft mich
Год выпуска 0
isbn 9783455008944
Автор произведения Michel Abdollahi
Жанр Биографии и Мемуары
Издательство Readbox publishing GmbH
Ich habe in den letzten Jahren mit vielen Menschen über diese Veränderungen gesprochen, auf Podien, in Briefwechseln, auf der Straße, immer am Bürger dran, ganz unmittelbar. In diesen Jahren habe ich die Gesellschaft beobachtet und mir dazu meine Gedanken gemacht. Um Veränderungen zu sehen, braucht es manchmal etwas Abstand, und wenn ich mit diesem Abstand heute aus dem Fenster schaue, dann sehe ich, dass sich Deutschland verändert hat. Ganz langsam. Politisch und gesellschaftlich. Herkunft ist wieder in Mode gekommen. Man soll wieder stolz auf die eigenen Gene sein, wenn es denn die richtigen sind. So kann man bequem unterscheiden, von Anfang an, in wertvoll und weniger wertvoll.
Ich gehöre für einige in die Kategorie weniger wertvoll. Und von diesen einigen gibt es viele. In der Ideologie der Nazis haben Gene immer eine zentrale Rolle gespielt. Sie sollen Unterschiede schaffen, die biologischer Natur sind. Wenn es gelingt, mit Hilfe der Propaganda zwischen guten und schlechten Genen zu differenzieren, ist diese Unterscheidung durch die Allmacht der Natur legitimiert oder, wenn man gläubig ist, durch Gott. Mit »Vorurteilen« hat das nichts mehr zu tun. Am Ende entsteht dann eine scheinbar lupenreine Kausalkette, die Menschen vermeintlich wissenschaftlich in gut und weniger gut, wertvoll und weniger wertvoll, »Herrenrasse« und »Untermenschen« einteilt. Was mit Letzteren zu tun ist, ist bekannt. Alles lange her. Wir haben daraus gelernt. Oder nicht? Thilo Sarrazin sagte der Welt am Sonntag in einem Interview: »Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen«, und: »Wenn das relative Gesicht einer bildungsfernen Gruppe zunimmt, haben wir ein Problem. Bei den muslimischen Migranten hat dies kulturelle Ursachen. Die Wissenschaft ist sich einig darin, dass die gemessene Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent erblich ist.«1[2]
Kultur, Gene, Rasse. Dummheit ist also genetisch bedingt. Deutschland schafft sich ab ist eines der meistverkauften Sachbücher der deutschen Nachkriegsgeschichte. Viereinhalb Sterne bei Amazon. Das Thema scheint anzukommen. Auch Bernd Höcke hat sich zum Genetiker aufgeschwungen. Auf einer Veranstaltung im November 2015 sprach er vom »lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp«, der hierzulande »auf den selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp« treffe. Das alles sei »sehr gut nachvollziehbar für jeden Biologen«.[3]
Da war sie wieder, die Biologie. Wir brauchen gar nicht diplomatisch zu sein und diese Aussagen etwas verschämt mit der Rassentheorie im Nationalsozialismus vergleichen. Es handelt sich hierbei um nichts anderes als die Rassentheorie der Nazis. Bei Sarrazin sowohl als auch bei Höcke. Viele möchten genau das hören: Anderthalb Millionen Leser und knapp ein Viertel der Thüringer Wählerinnen und Wähler, darunter viele junge Männer. Als Anhänger der Rassenlehre der Nazis sehen sich die meisten nicht. Sie sind nur besorgt. Und mit diesen besorgten Bürgern müsse man sprechen, ihre Sorgen ernst nehmen. Thüringens CDU-Fraktionsvize Michael Heym macht das, er erwägt eine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD und sieht eine »bürgerliche Mehrheit rechts«.[4] Ein neuer Ausdruck, der die unattraktive Wahrheit verschleiern soll. »Bürgerliche Mehrheit rechts« statt »Zusammenarbeit mit Rechtsradikalen«, die will der CDU-Wähler nämlich nicht, das passt nicht zu einer Partei der Mitte. Aber so eine »bürgerliche Mehrheit rechts«, ja warum denn eigentlich nicht? Alles kann passend gemacht werden, solange man dran glaubt.
***
Ich habe mal für einen Fernsehbeitrag ein großes Glücksrad auf die Straße gestellt.[5] Wie es bei Glücksrädern so ist, wollte sofort jeder daran drehen, ohne zu schauen, worum es ging. Nur gab es keine Gewinne. Auf dem Rad standen Wörter wie »Transsexuelle«, »Veganer«, »Türken« oder »Katholiken«. Immer, wenn der Zeiger bei einem Begriff stehen blieb, stellte ich eine kurze Frage: »Und? Wie finden Sie das?« Einen ganzen Tag sprach ich mit weltoffenen Menschen und hörte mir ihre vielen »Abers« an, immer nach dem Prinzip: Erst etwas Positives sagen, dann fällt das Negative nicht mehr so auf. Diversität wird toleriert, solange sie zur eigenen Meinung passt. Passt sie nicht, werden schnell Gründe dagegen gefunden. Ein paar Beispiele:
»Ich esse selbst sehr wenig Fleisch, aber mal ehrlich, wo sollen die ganzen Tiere denn hin, wenn sie keiner mehr isst?«
»Türken finde ich gut, aber bitte nicht in meiner Nachbarschaft.«
»Ich habe nichts gegen Transsexuelle, ganz und gar nicht, aber nicht vor den Kindern, die verstehen das doch noch gar nicht.«
Tritt man auf der Straße in direkten Kontakt mit den Menschen, entsteht der Eindruck, die erkämpfte Freiheit sei heute in Gefahr. Wenn die AfDs, Trumps oder Putins dieser Welt keifen, ist man oft sprachlos ob der Zustimmung, die sie erfahren. Dabei hat das Ganze auch etwas Positives: Die Presse berichtet ausführlicher und genauer, Zeitungen werden wieder vermehrt abonniert, öffentliche Diskussionen werden mit größerer Leidenschaft geführt. Der schäumende Rechte erfährt seit einiger Zeit einen Gegenwind, wie wir ihn lange nicht mehr erlebt haben. Die Demokratie ist wacher denn je, denn das bisher Erreichte wird nach wie vor nicht als selbstverständlich angesehen. Es muss weiter verteidigt werden, bis mein Glücksrad bei jedem Dreh einen Gewinn für unsere freie Gesellschaft zeigt.
Schön wär’s. Es tut gut, sich die Welt so vorzustellen. Widerstand, Zeitungsabonnements, Diskussionen, eine lebendige Demokratie. Die Realität sieht anders aus: Den Diskurs in den (sozialen) Medien bestimmt nach wie vor insbesondere die AfD. Sie besitzt bei Facebook mit Abstand die meisten Follower2 und generiert über die Plattform einen großen Teil ihrer Reichweite. Eine der ganz wenigen Zeitungen in Deutschland, deren Auflage zunimmt, ist die unter dem Deckmantel des Konservatismus getarnte rechtsradikale Junge Freiheit.[6] Und die meisten unentschlossenen Wähler haben nicht etwa die demokratischen Parteien mobilisiert, weil die Menschen ihr Land nicht den Rechten überlassen wollen und mit ihrer Stimme die Demokratie verteidigen. Ganz im Gegenteil, es war die AfD, die bei den Landtagswahlen 2019 in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mit Abstand die meisten Nichtwähler an die Urnen ziehen konnte, mit erschreckend enormen Zugewinnen gerade bei jungen Menschen.
Deutschland befindet sich seit Jahrzehnten im Tiefschlaf. Denn solange das Privileg der eigenen Herkunft Schutz bietet, wird die Bedrohung durch rechts nur als peripher empfunden. Die Realität der Migranten jedoch ist eine andere, weil ihnen dieses scheinbare Privileg fehlt. Über die Sorgen und Ängste dieser Gruppe muss unbedingt genauso gesprochen werden wie über die der sogenannten »besorgten Bürger«. Es betrifft immerhin gut ein Viertel der Bevölkerung. Davon sind wir leider noch weit entfernt.
Der Anteil der Migranten an der Bevölkerung unterscheidet sich deutlich innerhalb Deutschlands, je nachdem, wohin man schaut. Während sich in Westdeutschland etwas mehr als ein Viertel der Bevölkerung aus Migranten zusammensetzt, beträgt ihr Anteil in Ostdeutschland gerade mal 8 Prozent. Beim Wohnort wird der Unterschied noch deutlicher: 95 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund lebten 2018 in Westdeutschland und Berlin. Die restlichen 5 Prozent reichen anscheinend aus, um im Osten solch ein immenses Bedrohungsszenario zu erschaffen, dass sich ganze Landstriche hemmungslos ihrer Fremdenfeindlichkeit hingeben, von Wahlergebnissen jenseits der 20 Prozent für die AfD bis hin zu selbsternannten »national befreiten Zonen«.
Als ich im beschaulichen Nordwestmecklenburg im Dörfchen Jamel meine Hütte aufbaute, um dort für einige Zeit zu leben und für Panorama die Dokumentation »Im Nazidorf«[7] zu drehen, sprach ich dort nicht nur mit den Dorfbewohnern, sondern auch mit Polizisten. Die fuhren im Dorf regelmäßig Streife, nach einem Brandanschlag 2015 auf die Hütte des Künstlerehepaars Lohmeyer. Dazu muss man wissen, dass die Lohmeyers die einzigen sind, die sich in Jamel offen dazu bekennen, nichts für Nazis übrig zu haben. Auch zu meiner Hütte kamen die Beamten immer wieder, um zu schauen, was ich da machte.
Eines