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Krankheiten dazu ein, sich in uns breitzumachen und uns irgendwann umzubringen. Ist Alter also keine Krankheit, sondern ermöglicht das Alter vielmehr der Krankheit, sich in uns breitzumachen?

      Immerhin: In der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ringt man gerade intensiv und hitzig um genau diese Frage: Sollen wir Alter als Krankheit definieren? Oder öffnen Alterungsprozesse Tür und Tor für Krankheiten aller Art, allen voran für die sogenannten »Alterskrankheiten« wie Schlaganfall, Herzinfarkt, Diabetes mellitus, Arthrose und Demenz? Diese Unterscheidung ist Milliarden wert, genauer gesagt, sie könnte weltweit die Krankenkassen zwingen, finanzielle Schleusen zu öffnen für Gesundheitsdienstleistungen im Alter. Der Hintergrund: Die WHO erstellt die wesentliche Richtlinie mit dem klingenden Namen »Internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und damit zusammenhängenden Gesundheitsproblemen« – kurz ICD. Derzeit wird an der elften Fassung gearbeitet. Aufgelistet sind – Achtung! – alle bisher bekannten Krankheiten des Menschen. Und was als Krankheit gilt, muss auch behandelt werden. Und was behandelt wird, kostet Geld und muss von den Kostenträgern mehr oder weniger erstattet werden. Jede bislang bekannte Krankheit erhält von der ICD einen Code. Jetzt geht es also darum, ob »Alter« einen Code bekommen soll.

      Das dürfte auch deshalb noch für einige Diskussionen sorgen, weil ja auch »Krankheit« kein glasklar definierter Seinszustand ist, sondern ziemlich dehnbar. So definiert das Sozialversicherungsrecht »Krankheit« als eine Störung des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens und somit als eine Abweichung von der Norm »Gesundheit« (vgl. § 120 Abs. 1 Ziffer 1 ASVG, wonach Krankheit »ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand ist, der die Krankenbehandlung notwendig macht«). Tja, was ist nun »regelwidrig«?

      Vor 1949 fand man zum Beispiel psychische Störungen zwar merkwürdig, aber nicht regelwidrig! Wer unter Depressionen litt, unter Schizophrenie, Autismus oder Angststörungen, hatte sich das irgendwie selbst zuzuschreiben. Als klassisch krank galt man damals damit nicht. Und auch nicht als behandlungsbedürftig. Erst 1949 wurden psychische Erkrankungen in die ICD der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen.

      Und es kommt noch verrückter: Bis 1974, man mag es nicht glauben, galt Homosexualität in der hochseriösen ICD als psychische Störung und behandlungsbedürftig. Alzheimer und Osteoporose dagegen wurden nicht als Krankheiten eingestuft, sondern als »normales Altern« und damit als unvermeidlich sowie unbehandelbar. Gegen Alzheimer ist bis heute noch kein Kraut gewachsen, aber als klar identifizierbare Krankheiten gelten natürlich beide. Die moderne Diagnostik macht’s möglich, den Schwund an Knochendichte bei Osteoporose wie auch die Plaques-Bildung im Gehirn mitsamt Abbauprozessen von ganzen Gehirnarealen bei Alzheimer nachzuweisen. Beide Erkrankungen sind in der aktuellen ICD-Statistik aufgeführt.

      Die WHO-Klassifizierung der Krankheiten ist ein ungeheuer komplexes statistisches Monster – und von enormer Bedeutung. Denn erst, wenn in diesem international anerkannten Regelwerk eine Störung als Krankheit deklariert wird, kann die wissenschaftliche Forschung zur Diagnose und Therapie in großem Maßstab beginnen. Als beispielsweise der Autismus aufgenommen wurde, stieg erst dann die Arzneimittelindustrie in die pharmakologische Forschung ein, erst dann wurde eine klassische Diagnostik entwickelt, erst dann konnte den Betroffenen zumindest ansatzweise geholfen werden.

      Kaum auszudenken, was losgetreten würde, wenn man Altern als Krankheit definierte! Die moderne Altersforschung würde geradezu explodieren, es würden Arzneimittel gegen die Krankheit Alter in noch wesentlich größerem Umfang entwickelt, klinisch bewertet und zugelassen, als das heute der Fall ist. Besonders die kalifornische Start-up-Szene zeigt uns ja jetzt schon, welche Power der Zukunftsmarkt »Altersprävention und -therapie« entwickeln wird. Käme noch eine massive politisch und öffentlich finanzierte Pflicht zur »Altersbehandlung« hinzu, würde das einen gigantischen Schub für die Lebenserwartung von Millionen bedeuten.

      Aber doch bitte nicht um jeden Preis! Medikamentöse oder maschinell unterstützte Lebensverlängerung nur dann, wenn wir wirklich etwas davon haben, oder? Wenn wir das längere Leben nicht mit längerem Leiden bezahlen? Deshalb wird hier der Faktor Lebensqualität ins Zentrum rücken. Auch ins Zentrum dessen, was Krankenversicherungen bezahlen werden und was nicht, unabhängig davon, ob Alter nun als Krankheit eingestuft werden wird oder nicht. Wer sich gerne mit Formelwerken beschäftigt, dem seien die Kosten-Nutzen-Analysen nach QALYs (kurz für: qualitätskorrigiertes Lebensjahr) empfohlen. Dieses Bewertungssystem haben Gesundheitsökonomen zur Kosten-Nutzwert-Analyse von Therapien im Alter entwickelt. Es gibt Aufschluss über die aktuelle Lebensqualität im Vergleich zu völliger Gesundheit.

      Da steckt natürlich jede Menge Sprengstoff drin. Wie viel bzw. wie wenig Lebensqualität muss gegeben sein, um bestimmte Therapien anzusetzen bzw. abzubrechen? In diesem ethisch-/ökonomischen Abwägungsdilemma befinden wir uns ja bereits heute. Würde Alter als Krankheit klassifiziert, erhielte das natürlich eine ganz neue Brisanz. Aber schön langsam! Die gewichtige US-Gesundheitsbehörde Food-and-Drug-Administration (FDA) sieht die ganze Angelegenheit sowieso viel strikter als die WHO. Für sie ist und bleibt Altern ein normaler physiologischer Vorgang und ist demnach nicht als Krankheit zu bewerten, basta. Und die FDA bestimmt in den USA, wo es langgeht.

      Spätestens jetzt müssen wir natürlich fragen: Wie schätzt denn der Durchschnittsbürger das Phänomen Altern ein? In Finnland wurden kürzlich 3000 Laien, 1500 Ärzte, 1500 Krankenschwestern und 200 Abgeordnete des Parlaments gefragt: »Welcher Zustand des Seins ist als Krankheit zu bewerten – und welcher nicht?« Natürlich wurden sämtliche Krebsarten als Krankheit angesehen – dagegen das Altern selbst und auch seine Begleiterscheinungen durchweg nicht, also weder der altersbedingte Muskelverlust (Sarkopenie) noch andere Symptome wie Falten oder Haarausfall. Auch Ärzte sahen hier keinerlei Hinweise auf eine Krankheit.

      Vielleicht kann man es so formulieren: Der mit den Jahren schleichende Funktionsverlust von Zellen und Geweben führt zu etlichen Symptomen, die wir als »normales Altern« empfinden. Von Organ zu Organ beginnt dieser Prozess der Einschränkung übrigens in sehr unterschiedlichen Lebensphasen. So erschlafft das Unterhautfettgewebe, weil die nötigen Strukturproteine nur ungenügend »nachgeliefert« werden. Dieser Prozess beginnt schon mit Mitte 20, wird als Falten und »hängende Gesichtspartien« aber erst ab etwa 50 so richtig erkennbar. Das hormonelle System produziert weniger Hormone – die Degeneration der weiblichen Geschlechtsorgane beginnt bereits mit Ende 20 und führt über abnehmende Fertilität unerbittlich zur kompletten Unfruchtbarkeit. Oder nehmen wir die Lunge: Sowohl Lungenbläschen als auch die sie umgarnenden Kapillaren werden weniger, die Elastizität des Gewebes nimmt ab – es kommt zu Atemnot und deutlich geringerer Belastbarkeit. Hier spielen Umweltfaktoren und Lebensstil eine Riesenrolle: Ein 50-Jähriger, der sein Leben lang rauchte, kann die Atemnot eines 75-jährigen Nichtrauchers aufweisen. Wie gesagt, all diese Symptome des Alterns werden bisher gemeinhin als »natürlich« und »nicht krank« empfunden. Wie relativ eine solche Einschätzung sein kann, zeigt sich zum Beispiel an Fettleibigkeit. Auch diese sahen die meisten Teilnehmer der Umfrage nicht als Krankheit an, genauso wenig wie Transsexualität, obwohl beides offiziell als Krankheit eingestuft wird, auch im ICD. Dicke Menschen sieht man überall – so vielleicht die halbbewusste Einschätzung, es muss also »normal« und damit nicht krankhaft sein. Was unverrückbar feststeht: Altern ist eindeutig für jeden von uns zunächst der Prozess der primären Alterung, also ein schleichender, kaum merklicher Funktionsverlust von Zellen, Geweben und Organen, bis wir schließlich so geschwächt sind, dass unser Seinszustand in eine altersbedingte Krankheit kippt, ins sekundäre Altern.

      Allmählicher Übergang von Funktionsverlust durch Alterung zu altersbedingten Krankheiten

      Vorausgesetzt, man findet heraus, welche komplexen Prozesse das primäre Altern, also den schleichenden Funktionsverlust der Zellen, bedingen, dann könnte es doch möglich werden, die Degeneration, wenn schon nicht aufzuhalten, so aber doch zumindest zu verlangsamen. Auf diese Weise können uns altersbedingte Krankheiten erst in deutlich höherem Alter heimsuchen. Und das möglichst weit in Richtung der vorläufigen Schallmauer von 120 Jahre.

      Will heißen: Je mehr wir über die zellulären Prozesse des Alterns wissen, desto größer wird die Chance, die »Healthy Life Expectancy« (HALE)

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