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hatte ich mich schon längst in das Herz der Großmutter eingeschlichen. Meine Mutter, deren Abgott ich war, arbeitete in der Schokoladenfabrik Cyliax, um für mich zu sorgen. Großmutter hatte eine sehr kleine Rente, und wir kamen immer mehr schlecht als recht über die Runden. Durch die Sparsamkeit und Hausfrauentugenden der Oma brauchten wir, was das Essen anbelangte, aber keine Not zu leiden. Großmutter ging kurz vor Markthallenschluss einkaufen und brachte dann Fleisch und angestoßenes Obst mit, das die Händler los sein wollten. Ich kann mich erinnern, dass ich selten in die Schule einen ganzen Apfel mitbekam, er war fast immer ausgeschnitten. Zum Geburtstag erhielt ich stets ein neues Kleid. Meine Mutter kaufte einen Stoffrest für 75 Pfennige das Meter. Eine Freundin von ihr nähte mir daraus ein Kleid. Wie stolz ging ich damit immer zur Schule, es war die 89. Gemeindeschule in der Schwedterstraße.

      Als ich einmal für einen Aufsatz aller Berliner Grundschulen „Wie verlebe ich mein Wochenende“ einen Ehrenpreis bekam, war der Stolz meiner Mutter und Großmutter grenzenlos: ich war erst acht Jahre alt. Die Schule erhielt ein Diplom, was in die Aula gehängt und 1933 sofort entfernt wurde. Auch ich bekam ein Diplom, das die Großmutter im ganzen Hinterhaus herumzeigte. Ich weiß noch, wie unangenehm mir das war. Bald sollte meine Mutter in die Schule kommen. Da sie nicht redegewandt genug war, wurden alle meine schulischen Dinge von Tante Jenny erledigt. Von Seiten der Schule wurde vorgeschlagen, dass ich mit zehn Jahren in die Langesche Mittelschule kommen sollte. Ich bekam ein Stipendium. Der Kommentar meiner Mutter: „Das hat das Kind von mir.“

      Meine Schulfreundin Gretchen Bosisio wollte natürlich mit mir kommen; da die Eltern zahlen konnten, war das kein Problem für sie. Ich muss noch erzählen, wie wir, Gretchen und ich, Freundinnen wurden. Bei der Einschulung saß ich vor ihr. Meine sehr krausen, fast schwarzen Haare, die ich von meinen Vorfahren geerbt hatte, waren in einem Zopf, der steif abstand, gebändigt. Dieser Zopf imponierte Gretchen sehr. Obwohl sie immer sehr schüchtern war, meldete sie sich am dritten Schultag. Auf die Frage der Lehrerin, sagte sie mit weinerlicher Stimme: „Ich habe meine Frühstückstasche vergessen.“ Die Lehrerin fragte: „Wohnst du weit von hier?“ – „Nein“, sagte Gretchen, „an der Ecke Kastanienallee.“ – „Na, dann kannst du sie in der Pause ausnahmsweise holen.“ Wieder meldete sich Gretchen: „Darf ich jemanden mitnehmen?“ – „Wen willst du denn zur Begleitung?“ Mit dem Zeigefinger zeigte Gretchen auf mich: „Die da!“ – „Ihr dürft zusammen gehen“, sagte Fräulein Golke. Ich war stolz. Wir zogen zusammen Hand in Hand los. Unterwegs sagte Gretchen: „Willst du meine Freundin sein?“ Aus tiefstem Herzen sagte ich ja. (Heute noch, nach sechzig Jahren, sind wir befreundet.)

      An der Ecke Kastanienallee sagte Gretchen zu mir: „Hier musst du auf mich warten.“ Sie ging in einen Laden, eine Eiskonditorei. Gretchens Vater war Italiener und verkaufte italienisches Eis. Aus ganz Berlin kamen die Leute dorthin, um das gute italienische Eis zu kaufen. Später durfte ich natürlich immer mit in den Laden kommen, und oft bekam ich von dem netten Vater eine Eiswaffel, die für mich eine Kostbarkeit bedeutete.

      Zu Hause lebten wir sehr beengt. Wir schliefen zu dritt im Wohnzimmer. Neben dem Kachelofen hatte ich meine Chaiselongue, daneben einen Tisch und unter dem Tisch mein Spielzeug. Wir aßen zusammen am Küchentisch, Mutter und Großmutter gaben mir immer die besten Bissen. Meine Mutter war stets lustig und voller

       Hilde 1919

      Humor und konnte oft die Leute karikieren. Bei jeder Hausarbeit sang sie aus vollem Halse, meist Operettenmelodien. Die Leute im Hinterhaus meinten dann: „Die Grete schmettert wieder.“ Sie war sehr beliebt.

      Wir beide, meine Mama und ich, waren unzertrennliche Freundinnen und machten uns auch einen Spaß daraus, Oma zu hintergehen. So legte die Großmutter in ihrer Sparsamkeit im strengen Winter vier Kohlen in den Kachelofen. Wir warteten, bis Großmutter in die Küche gegangen war, und Mutter brachte unter der Schürze noch drei Kohlen herein, die ich vorsichtig auf die anderen legte. Dann wartete ich vor dem Ofen, bis alles durchgebrannt war, und machte den Ofen leise zu. Später sagte dann die Großmutter: „Seht ihr, wenn es nach euch gegangen wäre, hätten wir drei Kohlen verschwendet. Ist es nicht herrlich warm mit den vieren?“ Wir feixten.

      Meine Mutter war eine große Liebhaberin der Vögel. So hatten wir in unserer kleinen Wohnung sechs Vogelbauer mit zwei Kanarienvögeln, zwei Wellensittichen, Rotkehlchen, China-Nachtigall, Zeisig, Stieglitz, Buchfink und Bluthänfling. Zweimal in der Woche wurden die Käfige saubergemacht, freitags wurden sie besonders gründlich gesäubert. An dem Tag ging ich immer nach der Schule zu Gretchen. Es war zu Hause zu ungemütlich für mich. In aller Frühe gab es bei uns stets ein herrliches Vogelkonzert; verwunderlich war, dass das Rotkehlchen beinahe so laut wie die ChinaNachtigall schmetterte. Überhaupt das Rotkehlchen! Es war mein Vögelchen, denn ich bekam es einmal zum Geburtstag geschenkt. Es wurde sehr zahm und durfte morgens und abends in der Küche herumfliegen. Am Frühstückstisch holte es sich stets aus Großmutters Kaffeetopf eingeweichte Krümel und verspeiste sie vor uns auf dem Tisch. Sobald wir ein Schüsselchen mit Wasser auf den Fußboden stellten, badete es so genussvoll, dass die Federchen völlig vom Wasser durchtränkt waren, die rote Farbe war weg und es sah ganz struppig und hässlich aus. Es konnte dann nicht mehr hochfliegen und schüttelte und putzte sich so lange, bis es wieder fliegen konnte. Stets erfreute es uns mit seinem süßen Liedchen auf oder im Käfig. Abends, beim Schein der Petroleumlampe sang es leise perlend, zu Herzen gehend. Wenn wir einmal bei Dunkelheit nach Hause kamen und die Tür aufschlossen, knäckerte es sofort; wir liebten es sehr. Es wurde elf Jahre alt.

      Eines Morgens lag es tot im Käfig. Ich war untröstlich, denn ich hatte bisher meinem kleinen Freund alle Freuden und Leiden erzählt. Mein lieber Kamerad war von mir gegangen. In einen kleinen, mit Rosenblättern ausgelegten Karton legte ich mein Vögelchen und vertraute es meiner Mutter an, da ich bis zum späten Nachmittag in einem En-Gros-Geschäft arbeiten musste. Meine Mutter hatte Mittagszeit und sollte das Hänschen auf dem Zionskirchplatz beerdigen.

      Am nächsten Tag sagte sie, wenn wieder ein Vögelchen sterben sollte, würde es in die Mülltonne wandern, denn sie sei sich ziemlich lächerlich vorgekommen auf dem Zionskirchplatz. Als sie die geeignete Stelle suchen wollte, klopfte ihr der Parkwächter auf die Schulter mit den Worten: „Na Frauchen, wat suchen Sie denn hier?“ – Sie erzählte ihm von dem Rotkehlchen, und dass sie von mir den Auftrag hätte, es zu beerdigen. „Na, det habn wa gleich“, sagte der nette Berliner und holte eine große Schaufel. Inzwischen hatten sich ein paar neugierige Frauen eingefunden, die sich dem Beerdigungszug anschlossen. So wurde mein Rotkehlchen zu Grabe getragen. Der Parkwächter hielt sogar eine kleine Ansprache, und die Frauen schnäuzten in ihre Taschentücher, natürlich vor Lachen. Meine Mutter zeigte mir auf mein Drängen hin die Stelle, wo das Vögelchen beigesetzt sein sollte. Ich ging ab und zu mit einem Blümchen dorthin. Später sagte sie mir, dass sie die Stelle gar nicht mehr in ihrem Gedächtnis habe und mir eine beliebige Stelle angegeben hätte. Ja, das war meine gute Mutter!

      Als ich in die Schule kam, wurde der Religionsunterricht für mich problematisch. Ich fragte meine Mutter, was ich tun solle. Sie meinte: „Meine Religion heißt: Tue recht und scheue niemand, und da ist es mir egal, ob du am christlichen oder jüdischen Religionsunterricht teilnimmst.“ Und so nahm ich am evangelischen Religionsunterricht teil. Der Großmutter war das aber gar nicht egal. Sie fühlte sich als Jüdin und bestand darauf, dass auch ich jüdischen Religionsunterricht haben sollte. Sie meldete mich in der Riekestraße zum Unterricht an. Ich ging gern dorthin, es machte mir Spaß, die hebräischen Buchstaben zu lernen und von Rabbiner Dr. Weil Geschichten aus dem Alten Testament zu hören. Für Fleiß bekam ich dort dreimal eine Buchprämie, die Großmutter wieder überall herumzeigte. Zu den hohen Feiertagen ging Großmutter immer mit mir in den Tempel. Einmal beobachtete ich, wie sie sehr fromm betete. Plötzlich sah ich, dass sie das Buch verkehrtherum hielt – sie konnte also gar nicht Hebräisch lesen.

      Ab und zu ging die Großmutter mit mir zu einer gutsituierten jüdischen Familie, die in der Nachbarschaft eine Schneiderwerkstatt besaß, und zeigte dort meine guten Zeugnisse. Dann bekam ich immer eine Tafel Schokolade oder auch Geld geschenkt, und es wurde für mich dort ein Mäntelchen oder Kleidchen genäht.

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