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„Wenn der Tod seinen Schrecken verliert, ist er nicht mehr hässlich. Glaub mir, der weise Witz meines Vaters ist wahrhaft göttlich.“ Sie wurde schlagartig wieder ernst. „Geh! Geh nun zu Rieger, er kann nicht mehr warten.“

      Als ich ging, brach der neue Tag an. Hels letzte Worte hallten in meinen Ohren nach: „Sorge dich nicht, wir sehen uns wieder – ob du willst oder nicht!“

      ~

      Die Morgendämmerung stieg über die Siedlungsmauer und ich stand wieder am Strohbett des Sterbenden. In leisen, aber sicher gesetzten Worten, berichtete in von meinem Besuch bei Hel. Rieger hörte geduldig zu. Mit jedem Satz, den ich sprach, kehrte mehr Klarheit in seinen Blick zurück. Seine leidgeplagten Züge entspannten sich und der Hauch eines Lächelns zeichnete sein Gesicht.

      „Vor unendlich vielen Jahren“, begann er ein letztes Mal zu sprechen, „kam ein Fremder in unser Dorf. Es war Krieg ringsum, und Not, Hunger und Elend überzogen das Land mit grenzenlosem Schrecken. Ich war Ältester in diesen Tagen. Auf mein Geheiß hin gewährten wir ihm Schutz. Er hing dem alten Glauben an – ein Diar-Gode, ein Gode höheren Ranges der großen Göttin Freyja. Die umliegenden Stämme verfielen zu dieser Zeit allmählich den Versprechungen eines neuen Gottes. In blindem Eifer erschlugen sie alles und jeden, der den neuen Weg nicht mit ihnen beschreiten wollte. Der Fremde war in großer Gefahr. Er war vielleicht vier oder fünf Tage bei uns, da umstellten sie unser Dorf.

      Unsere Siedlung galt als unbezwingbar, und auch diese Belagerung würden wir mit Leichtigkeit überstehen. Doch sie hatten ihre Frauen und Kinder dabei, und keiner von uns konnte sich erklären, warum. Dann zeigte sich der neue Glaube in seiner ganzen Bosheit. Wir hatten immer Göttinnen und Götter verehrt. So nahm es nicht Wunder, dass Frauen und Männer den gleichen Stand im Stamm und in der Familie hatten. Der neue Gott lehrte jedoch die Unreinheit des Weibes und stellte es dem Manne nach. Dies begründete die Grausamkeit unserer Belagerer. Sie wussten, dass wir niemals auf wehrlose Frauen und Kinder schießen würden. So trieb jeder ihrer Krieger eine Frau oder ein Kind vor sich her auf die Siedlungsmauer zu. Je näher sie kamen, je deutlicher sahen wir die Gesichter ihrer lebenden Schilde – Angst, Verzweiflung und stille Bitte lag in jedem. Keiner von uns brachte es über das Herz, seinen Bogen zu spannen, den Tod durch die Luft zu tragen – bis die Feinde die Mauer erreichten.

      Der Fremde kam zu mir. In der Hand hielt er einige dünne, in Leder gebundene Runenstäbe. „Dies sind die letzten Lieder der alten Dichtung“, sprach er. „Eines Tages wird ein Mann kommen. Frag nicht – du wirst ihn erkennen! Gib ihm die Stäbe.“ Dann stellte er sich auf den Wall und sang einen Runenzauber.

      Ein erster Pfeil traf seine Brust, ein zweiter seinen Bauch, weitere folgten. Ein dünnes Rinnsal aus Blut sickerte aus seinem Mund, wuchs an zu einem breiten, dunkelroten Band, doch er sang sein Lied. Sang es bis zum letzten Ton. Dann starb er – aufrecht!

      Die Jahre vergingen, und aus dem jungen Mann, der ich einmal war, wurde ein Greis. Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, dem angekündigten Mann zu begegnen, als die Leute von dir und dem Apfel erzählten und wie du dazu gekommen bist. Da ahnte ich, dass du der Auserwählte bist. Aber ich war nicht sicher. Ich musste dich prüfen. Die schwerste Prüfung, die es auf Erden gibt, ist der Weg zu Hel. Also bat ich dich, zu ihr zu gehen und einen guten Platz in ihrem Reich für mich auszuhandeln. Glaube mir, ich habe jeden Tod und jedes Sterben schon gesehen – ich habe keine Fragen mehr. Einzig der Gedanke, die Liederstäbe nicht übergeben zu können, verbot mir bisher, zu sterben.

      Nimm nun die Stäbe! Du bist der Mann und ich sehe dich …“ Rieger war tot.

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