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Rhöner Nebel. Friederike Schmöe
Читать онлайн.Название Rhöner Nebel
Год выпуска 0
isbn 9783839263006
Автор произведения Friederike Schmöe
Жанр Триллеры
Издательство Автор
»Wie geht es euren Versagern?«, kam die Provinzoberin zum Punkt.
»Den Begriff mag ich nicht so sehr«, konterte Gertrudis.
»Ich verstehe. Es handelt sich um Jugendliche, die einfach Pech hatten.«
»Nicht unbedingt Pech. Manchmal ist es eine Verkettung vieler ungünstiger Umstände, die dazu führen, dass sie ihre Schulkarriere abbrechen, in die Sucht rutschen, von zu Hause weglaufen.« Gertrudis nippte an ihrer Tasse. Der gleiche, grasige Geschmack, den sie seit ihrem Noviziat vor beinahe 40 Jahren kannte. Ihr Magen krampfte sich empört zusammen. Sie ignorierte ihn, genauso wie den leidenden Blick des Gekreuzigten an der Wand hinter dem Schreibtisch.
»Ich bekomme ab und zu Anfragen von Reportern. Alles Mögliche wollen sie über euch wissen. Die entsprechenden Zeitungsausschnitte habe ich dir zugeschickt.« Die Provinzoberin lehnte sich zurück, strahlend vor Stolz.
»Die positive Resonanz freut uns. Das Konzept funktioniert. Die allermeisten Jugendlichen begreifen unser Internat und die Sonderförderung als ihre letzte Chance. Sie arbeiten mit. Das ist die Grundvoraussetzung.«
»Wohl wahr. Und die Bilanz?«
Gertrudis überlegte blitzschnell. Zum Ende des vergangenen Schuljahres war das Geld knapp geworden.
»Romana hat mir erzählt, dass die Spendensituation sich gebessert hat«, fügte die Provinzoberin hinzu.
Gertrudis wurde blass. Ihre Mitschwester Romana fungierte als ihre Stellvertreterin. Die Chemie zwischen ihnen stimmte nicht. Zudem war Romana knapp zehn Jahre jünger, energiegeladen, robust und ehrgeizig. Sie würde liebend gern die Internatsleitung übernehmen. Probleme, die Gertrudis nicht schlafen ließen, stachelten Romana nur an, unkonventionelle Lösungen zu erarbeiten.
»Wir haben einen Vater, dessen Sohn Schulprobleme hatte und der von der Extrabetreuung profitiert. Ein Industrieller. Er spendet großzügig.«
Die Provinzoberin legte die Fingerspitzen aneinander. »Meine Liebe. Spenden sind gut. Leider sind sie nicht vorauszusehen. Ich brauche die Gewissheit, dass wir es mit den regulären Einnahmen schaffen.«
Wenn die Provinzoberin von Romana geimpft worden war, und ihr Hinweis auf die Spenden ließ keine anderen Rückschlüsse zu, war sie vielleicht mit den Zahlen besser vertraut, als sie durchblicken ließ. Gertrudis entschied sich, ehrlich zu sein.
»Selbstverständlich kosten die zusätzlichen Pädagogen Geld. Anders können wir jedoch die spezielle Förderung der Jugendlichen, die Schulprobleme haben, nicht leisten. Des Weiteren behelfen wir uns mit Referendaren, die keine Stelle im regulären Schuldienst bekommen haben. Sie übernehmen Stunden bei uns.«
Wieder das Telefon. Irgendwo über ihr.
»Nachhilfe.«
»Man kann es so nennen. Im Kern geht es um die individuellen Lerndefizite der Schüler. Die müssen aufgefangen werden. Außerdem helfen uns die Mädchen, die bei uns ihr freiwilliges soziales Jahr ableisten.« Gertrudis räusperte sich. »Womöglich können wir in dem Rahmen eine weitere Stelle einrichten. Dieser Förderzweig ist unsere einzige Chance, wenn wir auf lange Sicht bestehen wollen.«
Es war heraus. Gertrudis würde die Worte nie zurücknehmen können.
Ein Windstoß fuhr gegen das Fenster. Grau hockte der Himmel auf den Dächern Würzburgs. In der Rhön würde es weiterschneien. Zeit, an den Aufbruch zu denken, wenn sie nicht im Dunkeln zu Hause ankommen wollte.
»Könnt ihr die Kosten drücken?«
»Da wäre auch noch unser Zivi …«
»Versteh mich nicht falsch. Ich möchte bei diesem Förderprojekt bleiben. Ich halte es für zukunftsfähig, wirklich! Wann immer ich kann, weise ich auf das Albertus-Magnus-Internat hin. Demnächst geht ein Informationsbrief an die Schulbehörden in Bayern und Hessen raus. Werbung ist alles. Nicht kleckern, klotzen. Eventuell können wir bei den Ministerien auf höhere Zuschüsse pochen.« Sie lachte laut und herzlich, während in ihrem Rücken das Fenster im Wind klapperte. »Du machst gute Arbeit, Gertrudis. Denk bitte daran: Spenden helfen, wenn es mal knapp wird. Doch hauptsächlich müssen die Einnahmen von den Beiträgen der Eltern und den staatlichen Mitteln kommen. Ich möchte nicht von einer Person abhängig werden. Das verstehst du sicher?«
Gertrudis nickte und murmelte ein paar Floskeln. Dieses Gespräch lief trotz allem nicht auf ein Desaster zu, wie sie zuvor gefürchtet hatte.
»Damit du dich vollständig auf das Internat konzentrieren kannst, möchte ich dir eine Belastung abnehmen. Ab Februar übernimmt Schwester Romana das Administrative. Du legst all dein Gewicht in die pädagogische Arbeit.«
Darauf lief es hinaus! Ein Schauder rann Gertrudis über den Rücken. Unwillkürlich kreuzte sie die Arme vor der Brust, als müsse sie sich vor einem Faustschlag schützen. Um Pädagogik ging es in ihrem Amt gerade nicht! Eher um Betriebswirtschaft.
»Ich …«
»Keine Widerrede. In unserem Alter müssen wir mit unseren Kräften haushalten. Leider sieht die Nachwuchssituation unseres Ordens, du entschuldigst die Wortwahl, hundsmiserabel aus. Wenn der Herr keine Wunder geschehen lässt, bleiben irgendwann nur wir Alten übrig. Noch Tee?«
Sie sondert mich aus, dachte Gertrudis, während sie mechanisch ihre Tasse hochhielt und sich die grasige Brühe einschenken ließ. Langsam, aber sicher. Und Romana rückt immer näher. Bis sie mich ausgestochen hat. Bloß wegen ihres Förderers mit den Goldhosen. Unversehens brach ihr der Schweiß aus.
Sie musste aufpassen.
*
2.
Privatdetektivin Katinka Palfy hatte kein Problem mit mysteriösen Persönlichkeiten. Im Prinzip fand sie undurchschaubare Menschen sogar interessanter als jene, in denen sie lesen konnte wie in einem offenen Buch. Dass allerdings ihre neue Klientin Anja Riedeisen, 51, sich davor fürchtete, bei einer Geburtstagsfeier ihre einstige Jugendliebe wiederzutreffen, und deshalb eine Personenschützerin dabeihaben wollte, hielt sie für unverhältnismäßig. Natürlich ging es bei diesem neuen Auftrag um etwas anderes als 30 Jahre alte romantische Gefühle. Wenngleich Anja Riedeisen dazu noch nicht viel gesagt hatte.
Katinka steuerte ihren italienischen Kleinwagen, gutmütig »der Italiener« genannt, die Höhenzüge der Rhön hinauf. Von Bamberg, wo sie lebte und üblicherweise auch arbeitete, keine weite Reise.
»Damals ging hier eine der am schärfsten bewachten Grenzen der Welt durch«, ließ sich Anja vernehmen.
»Damals.«
»Sie müssen verstehen. Diese Fahrt ist der reinste Flashback für mich! Seinerzeit«, sie lachte verlegen, »lag dort rechts Thüringen und dort links Bayern. Unser Internat befand sich ganze fünf Kilometer von der sogenannten Ostzone entfernt. Zu Beginn des Schuljahres bekamen wir Ermahnungen, uns nicht zu nah an die Grenze zu bewegen.«
»Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, Ihr freiwilliges soziales Jahr an so einem abgelegenen Ort zu machen?«, fragte Katinka aus echter Neugier. Das Kürzel FSJ war ihr nicht gänzlich unvertraut. Doch so etwas wie eine Grenze gab es nicht mehr. 30 Jahre waren eine lange Zeit, fand Katinka. Die Welt hatte sich in der Zwischenzeit Pi mal Daumen 262.800 Mal um die eigene Achse gedreht.
Der Landschaft der Rhön hatte die Zeit bislang nichts anhaben können. Stoisch, schroff, abwartend wirkten die geduckten Sträucher am Feldrand. Ab und zu drückte eine Windbö den Wagen zur Seite.
»Ich bin in Fulda aufgewachsen. Katholisch konservativ. Wollte Lehrerin werden, auf keinen Fall Wirtschaft studieren, sonst hätte mein Vater mich vollkommen vereinnahmt.«
»Warum?«