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würde sich nicht umdrehen. Nein. Sie würde schreien, sich an den anderen Menschen in der Schlange festhalten, betteln und flehen und sagen, dass sie die falsche Person hatten. Dass sie nichts mit dem mutmaßlichen Mörder Pierre Dubois zu tun und nie für ihn gearbeitet hatte. Sie würde alles tun, um einfach nur wegzukommen.

      Aber als sie sich darauf vorbereitete, zu kämpfen, schob sich der Mann an ihr vorbei und packte die zwei Teenager-Mädchen vor ihr.

      Die Mädchen begannen zu schreien und zu zappeln – genau wie sie es auch vorgehabt hatte. Zwei weitere Polizisten in Zivil erschienen, schoben die Beistehenden beiseite und packten die Mädchen am Arm, während ein uniformierter Polizist deren Taschen öffnete.

      Zu Cassies Verwunderung beobachtete sie, wie der Polizist drei Handys und zwei Geldbeutel aus dem neonpinken Rucksack des größeren Mädchens zog.

      „Taschendiebe. Bitte überprüfen Sie Ihre Taschen, meine Damen und Herren. Informieren Sie uns, wenn Ihnen etwas fehlt“, erklärte der Beamte.

      Cassie griff nach ihrer Jackentasche und fühlte erleichtert, dass ihr Handy sicher in der Innentasche verstaut lag. Dann blickte sie auf ihre Handtasche und ihr Herz sank Richtung Magengegend, als sie sah, dass der Reißverschluss offen war.

      „Mein Geldbeutel fehlt“, sagte sie. „Jemand hat ihn gestohlen.“

      Atemlos vor Angst folgte sie den Beamten aus der Schlange heraus und um die Ecke in das kleine Büro der Sicherheitsbeamten. Die zwei Taschendiebe warteten bereits dort und weinten, während die Polizisten ihre Taschen ausleerten.

      „Ist es dabei, Ma’am?“, fragte der Beamte in Zivil Cassie und deutete auf die Handys und Geldbeutel auf dem Tresen.

      „Nein, das ist es nicht.“

      Cassie wollte am liebsten selbst in Tränen ausbrechen. Sie sah zu, wie ein Beamte den Rucksack ausschüttelte und hoffte, ihr abgewetztes Lederportemonnaie herausfallen zu sehen, doch die Tasche war leer.

      Der Polizist schüttelte genervt den Kopf.

      „Sie geben ihre Beute durch die Schlange nach hinten, um sie zügig aus dem Sichtfeld zu schaffen. Da Sie vor den Dieben in der Schlange standen, wurde Ihr Geldbeutel vermutlich schon vor einer ganzen Weile entwendet.“

      Cassie drehte sich um und starrte die Diebe an. Sie hoffte, alle Gefühle und Gedanken in ihren Blick packen zu können. Wäre der Beamte nicht danebengestanden, hätte sie sie beschimpft, sie gefragt, welches Recht sie hatten, ihr Leben zu ruinieren. Sie waren nicht am Verhungern, trugen neue Schuhe und Markenjacken. Vermutlich stahlen sie für den Nervenkitzel oder um Alkohol oder Drogen zu kaufen.

      „Tut mir leid, Ma’am“, fuhr der Beamte fort. „Würden Sie bitte einige Minuten hier warten, wir müssen Ihre Aussage aufnehmen.“

      Eine Aussage. Cassie wusste, dass das nicht möglich war.

      Sie wollte unter keinen Umständen im Fokus der Polizei stehen. Sie wollte ihnen weder ihre Adresse geben, noch sagen, wer sie war. Und keinesfalls durften ihre Informationen in einem offiziellen Bericht stehen.

      „Ich werde meiner Schwester nur eben sagen, dass ich hier bin“, log sie den Beamten an.

      „Kein Problem.“

      Er drehte sich weg und redete mit seinem Walkie-Talkie, während Cassie aus dem Büro eilte.

      Ihr Geldbeutel war Geschichte, er war weg. Sie hatte keine Chance, ihn zurückzubekommen, selbst wenn sie hundert Polizeiberichte schreiben würde. Also entschied sie sich, das Nächstbeste zu tun: Das London Eye zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.

      Der Ausflug war ein unglaubliches Desaster gewesen. Sie hatte am Morgen viel Geld abgehoben und nun waren außerdem ihre Bankkarten weg. Sie konnte keine Bank betreten, um Geld abzuheben, da sie ihren Ausweis nicht bei sich trug – ihr Reisepass befand sich im Gästehaus und sie hatte keine Zeit, ihn zu holen, weil sie geplant hatte, direkt nach dem Besuch beim London Eye mit ihrer Freundin Jess Mittag essen zu gehen.

      Eine halbe Stunde später betrat Cassie den Pub, wo sie sich verabredet hatten. Sie war aufgewühlt, aufgebracht über den Verlust des Geldes und ziemlich genervt von London. Die Mittagshektik hatte noch nicht begonnen, also bat sie die Kellnerin, ihr einen Ecktisch zu reservieren, während sie das Badezimmer aufsuchte.

      Sie starrte sich im Spiegel an, glättete ihr welliges, kastanienbraunes Haar und versuchte sich an einem fröhlichen Lächeln. Der Ausdruck fühlte sich ungewohnt an. Sie war sich sicher, seit ihrem letzten Treffen mit Jess abgenommen zu haben, außerdem glaubte sie, zu blass und zu gestresst auszusehen. Und das lag nicht nur an dem Trauma dieses Tages.

      Als sie das Badezimmer verließ, sah sie gerade, wie Jess den Pub betrat.

      Sie trug dieselbe Jacke, die sie vor einem Monat getragen hatte, als sie beide auf dem Weg nach Frankreich gewesen waren, um ihre Au-Pair-Stellen anzutreten. Sie zu sehen brachte alle Erinnerungen zurück. Cassie erinnerte sich daran, wie sie sich an Bord des Flugzeuges gefühlt hatte. Ängstlich, unsicher und mit böser Vorahnung gegenüber der Familie, der sie zugeteilt worden war. All das hatte sich als begründet erwiesen.

      Jess dagegen war von einer liebevollen und freundlichen Familie angestellt worden und Cassie glaubte, sie sah sehr glücklich aus.

      „Es ist schön, dich zu sehen“, sagte Jess und umarmte Cassie fest. „Ach wie wundervoll.“

      „Das ist es. Aber ich stecke ein bisschen in der Klemme“, beichtete Cassie.

      Sie erzählte von dem Taschendiebstahl.

      „Nein! Das ist furchtbar. Welch Pech, dass dein Geldbeutel nicht unter den gefundenen war.“

      „Könntest du mir Geld fürs Mittagessen und die Busfahrt zurück zu meinem Gästezimmer leihen? Ich kann ohne Pass nicht einmal Geld abheben. Ich werde es dir überweisen, sobald ich Internetzugang habe.“

      „Natürlich. Und es ist keine Leihgabe, sondern ein Geschenk. Die Familie, für dich ich arbeite, ist wegen einer Hochzeit in London. Da heute alle in Winchester sind, um die Mutter der Braut zu besuchen, haben sie mich mit Geld überschüttet, um mir in London einen schönen Tag zu machen. Nach dem Essen gehe ich erstmal zu Harrods.“

      Jess schüttelte ihr blondes Haar nach hinten und lachte, als sie ihr Bargeld mit Cassie teilte.

      „Hey, sollen wir ein Selfie machen?“, schlug sie vor, doch Cassie lehnte ab.

      „Ich trage absolut null Makeup“, erklärte sie und Jess lachte, während sie ihr Handy wieder wegsteckte.

      Das fehlende Makeup war natürlich nicht der wahre Grund – sie gab ihr Bestes, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Als sie in London ankam, hatte sie zuerst die Einstellungen ihrer Social-Media-Kanäle verändert und auf privat gestellt. Gut meinende Freunde könnten schließlich etwas sagen, eine Spur, die sie nicht riskieren konnte. Niemand durfte wissen, wo sie war. Weder ihr Ex-Freund in den Staaten, noch ihr Ex-Arbeitgeber und sein Anwaltsteam in Frankreich.

      Sie hatte geglaubt, sich nach ihrem Abschied von Frankreich sicher zu fühlen, hatte aber nicht realisiert, wie zugänglich und verbunden Europa war. Direkt in die Staaten zurück zu gehen, wäre vernünftiger gewesen.

      „Du siehst fantastisch aus – hast du abgenommen?“, fragte Jess. „Und wie läufts mit deiner Familie? Du hattest dir damals Sorgen um deine Anstellung gemacht.“

      „Es hat nicht funktioniert, ich arbeite also nicht mehr dort“, sagte sie vorsichtig und verschwieg die hässlichen Details, über die sie selbst nicht nachdenken wollte.

      „Oh nein. Was ist passiert?“

      „Die Kinder sind nach Südfrankreich gezogen und die Familie braucht meine Dienste nicht mehr.“

      Cassie hielt sich so kurz wie möglich und hoffte, dass ihre langweilige Erklärung weitere Fragen abwenden würde. Schließlich

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