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Stoker

      Dracula

(Roman)

      Copyright © 2014 Der Drehbuchverlag, Wien

      2. Auflage, 13. Februar 2016

      Alle Rechte vorbehalten

      eBook: Dracula (Roman)

      ISBN: 978-3-99042-916-7

      ERSTES KAPITEL

      TAGEBUCH VON JONATHAN HARKER

      – in Kurzschrift gehalten -

      3. Mai. Bistritz – Verließ München am ersten Mai um 8.35 Uhr abends, erreichte Wien am frühen Morgen des nächsten Tages; sollte eigentlich um 6.46 ankommen, doch der Zug verspätete sich um eine Stunde. Budapest scheint eine wundervolle Stadt zu sein, soweit ich das vom flüchtigen Blick aus dem Zug und dem kurzen Spaziergang her sagen kann. Ich fürchtete, mich zu weit von der Bahnstation zu entfernen und glaubte, dass wir, aufgrund unserer späten Ankunft, so rasch als möglich wieder abfahren würden. Den Eindruck aber, den ich gewinnen konnte, war der, dass wir hier den Westen verlassen und den Osten betreten haben; die westlichste der großartigen Brücken über die Donau, die hier eine stattliche Breite und Tiefe aufweist, versetzte uns in eine Zeit, als hier noch die Türken herrschten.

         Wir fuhren rechtzeitig ab und erreichten Klausenburg nach Einbruch der Dunkelheit. Ich übernachtete im Hotel Royal. Zum Abendessen, oder vielmehr dem kleinen Abendimbiss, hatte ich Huhn, das irgendwie mit roten Paprika zubereitet war. Es war hervorragend, aber machte ungemein durstig – nicht vergessen: Rezept für Mina besorgen. Ich fragte den Kellner nach dem Namen der Speise, und er antwortete mir, dass es „Paprikahendl“ genannt werde, und als Nationalgericht überall entlang der Karpaten erhältlich sei. Mein gebrochenes Deutsch war mir hier sehr nützlich; und ich wüsste nicht, wie ich ohne es durchgekommen wäre.

         In London stand mir noch Zeit zur Verfügung. Zeit, die ich nutzte, um das „British Museum“ aufzusuchen und mich in der Bibliothek mit Hilfe von Büchern und Karten über Transsylvanien kundig zu machen; einige Vorkenntnisse über ein Land zu besitzen, so schien mir, würde mir wohl im Umgang mit einem Adeligen des Landes sicher nicht schaden. Den Bezirk, den er mir nannte, fand ich im äußersten Osten des Landes, am Kreuzungspunkt dreier Staaten: Transsylvanien, Moldawien und Bukowina, inmitten des Karpatengebirges; eines der wildesten und unbekanntesten Gebiete Europas. Es war mir nicht möglich, anhand der mir zur Verfügung stehenden Karten oder Ausführungen eine exakte Ortsangabe des Schlosses Dracula abzugeben, da die Karten des Landes nicht mit unseren Landesvermessungen vergleichbar sind; aber ich fand, dass Bistritz, die kleine Stadt mit der Poststation, die mir Graf Dracula genannt hatte, ein ziemlich bekannter Platz ist. Hier möchte ich einige meiner Notizen vornehmen. Sie sollen mein Gedächtnis auffrischen, wenn ich mit Mina über meine Reise sprechen werde.

         Die Bevölkerung Transsylvaniens besteht aus vier verschiedenen Nationalitäten: Die Sachsen im Süden, und mit ihnen gemischt die Walachen, die Nachfahren der Daker sind; Magyaren im Westen und die Szekler im Osten und Norden. Die Letztgenannten behaupten, von Attila und den Hunnen abzustammen. Das mag wohl so sein, denn als die Magyaren im elften Jahrhundert das Land eroberten, waren dort Hunnen ansässig. Ich las, dass jeder erdenkliche Aberglaube der Welt aus den hufeisenförmigen Zügen der Karpaten entstammt, als wäre es das Zentrum eines Strudels jeder Art von abergläubischer Vorstellung; wenn dem so ist, wird sich mein Aufenthalt äußerst spannend gestalten. (Erinnerung: Ich muss den Graf über all das befragen.)

         Ich schlief gar nicht gut. Mein Bett war komfortabel genug, aber ich hatte jede Menge seltsamer Träume. Vielleicht war auch der Hund, der die ganze Nacht unterhalb meines Fensters heulte, der Grund für meine unruhige Nacht; oder war der Paprika schuld. Wegen ihm hatte ich schon das gesamte Wasser der Karaffe ausgetrunken und war immer noch durstig. Gegen Morgen schlief ich schließlich ein. Erst beständiges Klopfen an meiner Türe weckte mich auf, woraus ich schließen konnte, dass ich sehr tief geschlafen haben muss. Zum Frühstück aß ich erneut Paprika und eine Art von Haferbrei mit Maismehl, das sie „Mamalika“ nennen, sowie Auberginen gefüllt mit gehacktem Fleisch – ein exzellentes Mahl, das hier „Impletata“ heißt. (Erinnerung: Auch hiervon das Rezept verlangen.) Ich musste mich mit dem Frühstück beeilen, da mein Zug kurz vor acht Uhr ging; das heißt, er sollte um diese Zeit gehen. Aber als ich den Bahnhof um 7.30 erreichte, musste ich noch mehr als eine Stunde im Wagen sitzen, bevor wir endlich zur Abfahrt bereit waren. Mir scheint, als gingen die Züge umso unpünktlicher, je weiter man in Richtung Osten kommt. Wie mag es da erst in China sein?

         Den ganzen Tag über bummelte der Zug durch eine Landschaft, die voll von Schönheiten aller Art war. Manchmal sahen wir kleine Städte oder Schlösser auf steilen Hügeln, wie man sie aus den alten Messbüchern kennt; manchmal passierten wir Flüsse und Bäche, die wohl häufig aus ihren Ufern treten, was nach den breiten Geröllstreifen auf beiden Seiten zu schließen ist. Es braucht schon viel Wasser und Fließkraft, um die äußeren Uferstellen eines Flusses mit sich zu reißen. Auf allen Stationen standen kleinere und größere Gruppen von Eingeborenen herum, die mit allen möglichen Trachten bekleidet waren. Manche von ihnen glichen den Bauern, wie ich sie von zu Hause her kenne oder wie ich sie sah, als ich durch Frankreich und Deutschland fuhr: Mit kurzen Jacken, runden Hüten und selbst geschneiderten Hosen; andere wiederum wirkten sehr pittoresk. Die Frauen waren hübsch anzusehen, solange man ihnen nicht zu nahe kam, da sie unförmig an den Hüften waren. Sie hatten alle weite, weiße Ärmel, und die meisten von ihnen trugen breite Gürtel, an denen Streifen herunterhingen wie bei Ballettkleidern, und selbstverständlich hatten alle Unterröcke an. Seltsamen Figuren glichen die Slowaken, die barbarischer als alle anderen aussahen, mit ihren großen Cowboy-Hüten, den weiten schmutzig-weißen und gebauschten Hosen, mit ihren hellen Leinenhemden und den enormen, schweren Ledergürteln, beinahe einen Fuß breit, und über und über bespickt mit Messingnägeln. Sie trugen hohe Stiefel, in die sie ihre Hosen gesteckt hatten. Sie hatten langes schwarzes Haar und schwarze stattliche Schnurrbärte. Sie waren zwar malerisch, aber nicht angenehm anzusehen. Sie sahen aus wie einst die orientalischen Räuberbanden. Aber das wurde mir erzählt, sie sind absolut harmlos und verfügen über ein natürliches Selbstbewusstsein.

         Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als wir in Bistritz, einer sehr interessanten alten Stadt, ankamen. Sie liegt praktisch an der Grenze – von hier aus führt der Borgo-Pass in die Bukowina – und durchlebte in der Vergangenheit sehr stürmische Zeiten, die auch gewisse Spuren hinterließen. Vor fünfzig Jahren wüteten hier mehrere Großbrände, die der Stadt gleich fünfmal ungeheure Zerstörungen beifügten. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts musste die Stadt eine dreiwöchige Belagerung erdulden, bei der sie 13.000 Bürger verlor. Neben den kriegerischen Auseinandersetzungen waren auch Hungersnot und Seuchen Assistenten des Todes.

         Graf Dracula hat mir geraten, im Hotel Goldene Krone zu übernachten. Zu meiner großen Überraschung war es ein Haus im alten Stil, was mich deshalb freute, da ich so viel als möglich an Eindrücken von diesem Land erfahren wollte. Ich wurde offensichtlich schon erwartet, denn als ich bei der Tür hereinkam, sah ich eine vergnügt aussehende ältere Dame in der hier üblichen bäuerlichen Tracht – weißes Unterkleid mit langer doppelter Schürze, vorne wie hinten, aus buntem Stoff, die aber zu eng anlag. Als ich näher kam, verbeugte sie sich und sagte: „Der Herr Engländer?“ „Ja“, antwortete ich, „Jonathan Harker“. Sie lächelte und gab einem älteren Herren in weißen Hemdärmeln, der ihr bis zur Tür folgte, eine Nachricht. Der Mann ging, kam aber sofort mit einem Brief wieder zurück:

      Mein Freund,

      Willkommen in den Karpaten. Ich erwarte Sie schon mit Ungeduld. Schlafen Sie gut diese Nacht. Morgen um drei Uhr geht die Postkutsche nach Bukowina: Ein Platz ist für Sie bereits reserviert. Am Borgo-Pass wird Sie mein Wagen erwarten und zu mir bringen. Ich hoffe, dass Ihre Reise aus London gut verlief, und dass Sie Ihren Aufenthalt hier, in meiner schönen Heimat, genießen werden.

      Ihr Freund,

      DRACULA.

      4. Mai. – Ich erfuhr, dass mein Wirt einen Brief vom Graf erhallten hatte, der ihn beauftragte, den besten Platz in der Postkutsche für mich zu reservieren; als ich ihn über Details ausfragen wollte, wurde er zurückhaltend und gab vor, mein Deutsch nicht zu verstehen. Das konnte nicht wahr sein, denn bisher verstand er es ausgezeichnet; zumindest beantwortete er meine Fragen exakt, und es

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