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Erfahrung.

      »Ih wo!« machte die jüngere Schwester wieder, aber das klang nicht ganz so bestimmt wie vorher. Diesmal ging ihr Blick unsicher zur Mutter hin.

      Nach der Mahlzeit packte Vater sein beleidigtes Nesthäkchen bei den winzigen Rattenschwänzchen.

      »Du mußt dir das nicht so zu Herzen nehmen, meine Lotte, daß ich dich vorhin angefahren habe. Ich kam von Scharlachkindern, da hatte ich Angst, daß du dich anstecken könntest, wenn du so dicht an mich herankommst.«

      Seine Lotte lachte bereits wieder über das ganze Gesicht. Wenn Vater nicht ärgerlich auf sie war, ach, dann war ja alles gut! Dann ließ sie sich sogar gern ein bißchen von ihm anfahren.

      »Und weißt du, Vatchen,« beruhigte sie ihn zärtlich, »du brauchst gar keine Angst zu haben. Ich bekomme bestimmt nicht Scharlach, denn ich habe ja erst die Masern gehabt.«

      2. Kapitel

       In Vaters Klinik

       Inhaltsverzeichnis

      Eine Woche war es nur noch bis zu den Osterzensuren. Man sprach jetzt in der Schule eigentlich von nichts anderem mehr. Höchstens in der achten Klasse. Da war der bevorstehende Geburtstag von Annemarie Braun, und wen sie wohl zu ihrer Kindergesellschaft einladen würde, beinahe ebenso wichtig wie die Versetzung. Denn Annemarie war allgemein beliebt in der Klasse, und außerdem erschien es einer jeden als höchstes Ziel, bei der Ersten eingeladen zu werden. Wenn Annemarie auch meistens nur auf dem ersten Platz Gastrollen gab. Durch ihre guten Fähigkeiten überflügelte sie ihre Mitschülerinnen, doch ihr übermütiges und unachtsames Wesen ließ sie den Ehrenplatz nie lange behaupten.

      Aber die Kindergesellschaft durfte nur stattfinden, wenn Annemarie »lobenswert« im Betragen bekam. Mutti hatte es ausdrücklich ihrem Nesthäkchen eröffnet. Annemarie hoffte, daß Fräulein Neudorf den Radau neulich vor der Rechenstunde vergessen haben würde – und mit ihr hofften es all ihre Freundinnen.

      Überhaupt irgendwelche Sorgen pflegte sich der lustige Wildfang nie lange zu machen. Wie kam es dann nur, daß Annemarie jetzt gar nicht so ausgelassen sein konnte wie sonst? Daß sie unlustig zur Arbeit wie zum Spielen war, daß sie sich sogar mit dem Lieblingsbruder Hans nicht vertrug und losheulte, wenn man sie bloß schief ansah? Grade ihr liebenswürdiges Wesen gewann ihr doch sonst alle Herzen. Auch mit Freundin Margot hätte es sicherlich Streit gegeben, wenn diese nicht solch ein sanftes Kind gewesen wäre.

      Nicht einmal die Handarbeitsstunde, in der Puppenkleider genäht wurden, und auf die sie sich so gefreut hatte, machte ihr Spaß. Auf ihrem ersten Platz saß Annemarie und hatte vor sich den wunderschönen hellblauen Puppenlappen, den sie Mutti abgebettelt, ausgebreitet. Ihre Negerpuppe Lolo, die sie nach der Schule begleitet hatte, grinste vor Freude über das neue Sonntagskleidchen, das sie bekommen sollte.

      Es war ein drolliges Bild, wie die kleinen Schulmädel voll Eifer ihren Puppenkindern nach Fräulein Herings Angaben Maß nahmen. Jeder Schülerin sah man die Freude an der hübschen Beschäftigung an.

      Nur Annmaries Gesicht schaute unlustig drein. Anstatt die Schulterbreite von Lolo zu messen, stützte sie ihren Blondkopf in die Hand. Wie der brannte und schmerzte! Und die Augenlider waren ihr so schwer, daß sie dieselben am liebsten geschlossen hätte.

      Aber nein, sie wollte doch ihre Lieblingslehrerin nicht ärgern. Mit Anstrengung riß die Kleine die drückenden Blauaugen wieder auf.

      Nanu, was fiel denn Puppe Lolo ein? Die steckte ihr ja ganz weit die rote Zunge, die sonst hinter den weißen Porzellanzähnchen kaum sichtbar war, heraus. Ja, war das denn überhaupt noch die Lolo? War das denn nicht der große braune Affe, den sie neulich im Zoologischen Garten gesehen? Jetzt fletschte er sogar noch die Zähne und - ein lauter Aufschrei gellte von Annemaries Lippen durch die achte Klasse.

      Die neben ihr sitzende Margot packte die Freundin erschreckt beim Arm - wie konnte die Annmarie nur so ungezogen sein und mitten in der Stunde losschreien!

      Aller Augen wandten sich halb lachend, halb erstaunt der Ersten zu - was die Annemarie Braun doch immer für Ulk machte!

      Fräulein Hering aber trat kopfschüttelnd zur ersten Bank. Bei all ihrer Zuneigung für das reizende Mädchen, das durfte sie doch nicht durchgehen lassen.

      »Annemarie, ist dir was?«fragte sie.

      »Nein - ich weiß nicht - mein Kopf tut so doll weh - und - und ich graule mich so vor der Puppe.« Annemarie begann zu weinen, während die Klasse über das große dumme Mädel laut zu lachen begann.

      Fräulein Hering gebot Ruhe und fühlte Annemaries Stirn.

      »Genau wie Mutti« dachte Annemarie und schloß beruhigt die Augen. Mutti war bei ihr – sicher – wer konnte denn sonst so zärtlich über ihre Locken streichen? Ach, wenn Mutti bei ihr war, dann war ja alles gut.

      »Du hast Fieber, mein Kind,« hörte sie jemand sagen. Doch das war nicht Muttis Stimme, nein, das war ja die von Fräulein Hering. Wie aus weiter Ferne klang sie an Annemaries Ohr. »Du mußt nach Haus gehen, mein Herzchen, aber ich wage nicht, dich allein zu schicken, da dir nicht gut zumute ist. Ich werde dich nach der Stunde selbst heimbringen.«

      Es war zweifelhaft, ob das fiebernde Kind die freundlichen Worte begriffen hatte. Es hatte den Kopf auf den Schultisch gelegt, grade auf den hellblauen Puppenlappen. Die Mienen der anderen Kinder zeigten Bestürzung und Teilnahme; während die schwarze Lolo ein wütendes Gesicht machte, weil sie das schöne blaue Kleid nicht bekam.

      Als die Schulglocke schrill durch alle Klassen gellte, fuhr Annemarie aus dem Halbschlaf, der sie umfangen, wieder weinend empor. Aber die gütigen Worte ihrer Lieblingslehrerin beruhigten sie. Fräulein Hering setzte Annemarie eigenhändig die Mütze auf die Locken und zog ihr den Mantel an. Vorsorglich schlug sie ihr den Kragen desselben hoch, damit sich das Kind, dessen Backen glühten, nicht noch draußen in der scharfen Märzluft erkälte. Margot schnallte ihr mit mitleidigen Augen die Mappe auf, und gab ihr Lolo in den Arm.

      Da aber begann Annemarie wieder zu schreien. Das schwarze Negergesicht der Puppe flößte ihr Grauen ein. Fräulein Hering nahm die Puppe selbst. Mit dem anderen Arm umschlang sie die erkrankte Annemarie. Aber so liebevoll die Lehrerin sie auch stützte, die Kleine vermochte kaum zu gehen. Die Beine waren ihr so schwer, als ob tausend Gewichte daran hingen. Nur mit Mühe kamen sie die breiten Steintreppen hinab.

      Der Schuldiener mußte ein Auto holen. Unter neidischen Kinderblicken nahm Annemarie mit der allgemein beliebten Lehrerin darin Platz.

      Ach – Annemarie war nicht beneidenswert. In ihren Schläfen hämmerte und pochte es, der Kopf, den sie an Fräulein Herings Schulter lehnte, zersprang ihr fast vor Schmerzen. Das Töffen und Rattern des Autos, das ihr immer solchen Spaß gemacht, verursachte ihr geradezu eine körperliche Pein. Und die Fahrt, sonst für Annemarie der Gipfelpunkt aller Wünsche, ließ sie ganz gleichgültig. In wenigen Minuten hielt das Auto vor dem hohen Haus, in dem Doktor Braun wohnte.

      Der Hausmeister stand im Vorgärtchen und beschnitt die Sträucher. Als er sah, daß die Dame sich vergeblich mühte, die Kleine von Doktors aus dem Wagen zu heben, sprang er herzu und trug Annemarie auf seinen Armen die Treppe hinauf. Denn selbst der Hausmeister hatte das freundliche Kind in sein Herz geschlossen.

      O weh – was bekam Frau Doktor Braun für einen Schreck, als ihr Nesthäkchen ihr so nach Hause gebracht wurde. Nachdem sich Fräulein Hering mit den besten Wünschen für die kleine Patientin, die Fräulein inzwischen zu Bett gebracht hatte, empfohlen, legte die Mutter als tüchtige Doktorfrau sofort das Thermometer ein. Das schnellte fast bis vierzig Grad empor.

      Um Himmelswillen – was war mit dem Kinde? So hoch hatte Annemarie noch nie gefiebert. Die geängstigte Mutter eilte ans Telephon, ihren Mann aus seiner Klinik herbeizurufen.

      Bald stand Doktor Braun an dem Bett seines Kindes und untersuchte es eingehend. Zuerst erkannte es den Vater gar nicht, sondern hielt ihn für den Hausmeister. Aber als der Vater ihr seine kühle Hand

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