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bedachtsam und besonnen.« Er hätte hinzusetzen können: feig und eigensinnig, engherzig und von maßlosem Eigendünkel besessen; aber der Respekt vor seinem Chef hatte seine Beobachtungsgabe schon seit einer langen Reihe von Jahren in dieser Hinsicht getrübt. Wenn manche mit einem Löwenherzen geboren sind, so hat die Natur anderen den Mut eines Esels verliehen. Dennis' Herz gehörte zu den anderen.

      »Sehr hübsch gegeben,« entgegnete Sir Giles befriedigt. »Die Zeit wird lehren, ob man wegen einer so durchaus unbedeutenden Person, wie mein Neffe Arthur ist, sich einen Mord auf das Gewissen ladet. Die Anspielung auf ihn ist eine einfache Zweideutigkeit, welche nur bezwecken soll, daß ich weniger auf meiner Hut bin. Meine Stellung, mein Geld, mein Einfluß in der Gesellschaft machen mich zu einer öffentlichen Persönlichkeit. Gehen Sie jetzt gleich auf das Polizeiamt, und bringen Sie den ersten besten Beamten, den Sie dort im Dienst treffen, mit hierher.«

      Der gute Dennis Howmore näherte sich nur sehr widerwillig der Thüre. Bevor er jedoch das Ende des Zimmers, an dem sich der Ausgang befand, erreicht hatte, wurde die Thür von außen geöffnet. Einer der Markthelfer der Bank meldete einen Besuch.

      »Miß Henley, Sir, wünscht zu wissen, ob Sie zu sprechen sind.«

      Sir Giles blickte angenehm überrascht auf. Lebhaft erhob er sich, um die Dame zu empfangen.

      Drittes Kapitel

      Wenn Iris Henley einmal stirbt, so wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach Freunde hinterlassen, welche ihrer gedenken und über sie sprechen, und bei diesem Gespräch mögen zufällig Fremde anwesend sein (in den meisten Fällen natürlich Frauen), deren Neugierde sie Fragen stellen läßt, die sich auf die äußere Erscheinung und den Charakter der Verstorbenen beziehen. Keine Antworten werden jedoch den Fragenden eine wahrheitsgetreue Beschreibung geben. Miß Henleys hauptsächlichster Vorzug bestand in einer wunderbaren Beweglichkeit des Ausdrucks, welche jeden Wechsel in ihrem Denken und Fühlen widerspiegelte, besonders für zarte und empfindliche Frauennaturen. Wahrscheinlich aus diesem Grunde wird auch keine Schilderung ihrer Persönlichkeit mit der andern übereinstimmen. Keine Vergleiche werden eine richtige Anschauung von ihr geben. Das einzige Bild, welches von Iris gemalt worden ist, wird nur von parteiischen Freunden des Künstlers als getroffen bezeichnet. In und außerhalb Londons wurden photographische Aufnahmen von ihr gemacht. Sie haben die Ehre, in dieser einen Hinsicht den Porträts von Shakespeare zu gleichen – neben einander gesehen ist es nicht möglich, zu entdecken, daß sie ein und dieselbe Person darstellen. Was das Zeugnis anbetrifft, das das liebende Gedächtnis ihrer Freunde gibt, so ist es sicherlich in letztem Grunde auch widersprechend. Sie hat ein angenehmes Gesicht, ein gewöhnliches Gesicht, ein kluges Gesicht – eine häßliche Gesichtsfarbe, eine zarte Gesichtsfarbe, überhaupt gar keine Farbe – Augen, die eine heftige Gemütsart, einen glänzenden Geist, einen festen Charakter, einen leidenschaftlichen Sinn, eine ehrliche Natur, hysterische Empfindlichkeit, unbezwingbaren Eigensinn verraten. Ihre Gestalt ist zu klein; nein, sie hat gerade die rechte Größe; nein, sie ist weder das eine noch das andere. Sie trägt sich elegant, oder ihr Anzug ist schäbig, ganz, wie man will; o gewiß nicht, ihr Anzug ist gediegen und einfach; nein, etwas mehr als das, herausfordernd, theatralisch einfach, getragen mit der deutlich ausgesprochenen Absicht, nicht so gekleidet zu sein wie die anderen. War denn diese Menge von Widersprüchen auch schon da, als Iris noch lebte? Ja und nein; ja – unter den Leuten; nein – nicht ohne Beschränkung. Der Mann, der sie vor allen anderen am meisten hätte lieb haben sollen, war gerade derjenige, der sie am übelsten behandelte – ihr eigener Vater. Und als das arme Mädchen heiratete (wenn sie überhaupt geheiratet hat), wie viele von Ihnen haben denn der Hochzeit beigewohnt? – Keine von uns. Und als sie gestorben war, wer von Ihnen hat sie betrauert und beweint? Wir alle – was? Bei dieser besonderen traurigen Veranlassung gab es keine Meinungsverschiedenheit – wir stimmten damals, Gott sei Dank, alle überein.

      Lassen wir die Jahre zurückrollen und Iris selbst sprechen in der denkwürdigen Zeit, da sie in der ersten Blüte der Jugend stand und ein bewegtes Leben noch vor ihr lag.

      Viertes Kapitel

      Als Miß Henleys Pate genoß Sir Giles gewisse Vorrechte. Er legte seine dicht behaarte Hand auf ihre Schulter und küßte sie auf beide Wangen. Nach dieser zärtlichen Begrüßung begann er sie auszufragen. Welches außerordentliche Zusammentreffen von Ereignissen hatte Iris bestimmt, London zu verlassen, und sie in sein Bankhaus nach Ardoon geführt?

      »Ich wollte von Hause fort,« antwortete sie, »und da ich niemand habe als meinen Paten, zu dem ich gehen könnte, so bin ich hierher gekommen zu Ihnen.«

      »Allein?« rief Sir Giles.

      »Nein, ich habe mein Mädchen als Begleiterin mitgenommen.«

      »Nur Ihr Mädchen, Iris? Sie haben doch sicherlich unter den jungen Damen, die mit Ihnen gleichalterig sind, Bekannte!«

      »Bekannte – ja! Freundinnen – nein!«

      »Hat denn Ihr Vater zu Ihrem Unternehmen seine Zustimmung gegeben?«

      »Wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?«

      »Wenn ich kann – ja.«

      »Verlangen Sie von mir keine Antwort auf Ihre letzte Frage.«

      Die bleiche Farbe, welche ihr Gesicht bedeckt hatte, als sie das Zimmer betrat, war verschwunden. Ebenso änderte sich der Ausdruck um ihren Mund. Die Lippen schlossen sich krampfhaft und verrieten einen unabänderlichen Entschluß, hervorgerufen durch das bestimmte Gefühl erlittenen Unrechts. Sie sah älter aus, als sie in Wirklichkeit war; wie sie einmal in zehn Jahren sein mochte, so war sie jetzt. Sir Giles verstand sie. Er stand auf und wanderte im Zimmer umher. Eine alte Gewohnheit, die er mit unendlicher Schwierigkeit, als er Baronet geworden war, unterdrückt hatte, kam von neuem zum Vorschein: er steckte seine Hände in die Taschen.

      »Sie und Ihr Vater haben sich wieder einmal veruneinigt,« sagte er, vor Iris stehen bleibend.

      »Ich leugne es nicht,« antwortete sie.

      »Wer ist daran schuld?«

      Sie lachte bitter.

      »Die Frau ist immer der schuldige Teil.«

      »Hat das Ihnen Ihr Vater gesagt?«

      »Mein Vater erinnerte mich daran, daß ich an meinem letzten Geburtstag einundzwanzig Jahre alt geworden sei, und sagte mir, ich könnte thun, was mir beliebte. Ich verstand ihn und verließ das Haus.«

      »Sie werden doch wohl wieder zurückkehren?«

      »Ich weiß nicht.«

      Sir Giles begann wiederum das Zimmer zu durchschreiten. Seine markirten Züge, die von Unglück und Kampf im früheren Leben erzählten, zeigten Spuren von Mißvergnügen und Trauer.

      »Hugh versprach mir,« sagte er, »zu schreiben, hat es aber nicht gethan. Ich weiß, was das bedeutet, und weiß auch, wodurch Sie Ihren Vater erzürnt haben. Mein Neffe hat Sie schon zum zweitenmale gebeten, seine Frau zu werden. Und zum zweitenmale haben Sie ihm eine abschlägige Antwort gegeben.«

      Ihr Gesicht erhellte sich und erhielt seinen besseren und jüngeren Ausdruck wieder.

      »Ja,« sagte sie traurig und niedergeschlagen, »ich habe ihn zum zweitenmale abgewiesen.«

      Sir Giles verlor seine Ruhe.

      »Was in aller Welt haben Sie denn an Hugh auszusetzen?« brach er los.

      »Mein Vater sagte dasselbe zu mir,« entgegnete sie, »fast mit den nämlichen Worten. Ich erzürnte ihn, als ich versuchte, ihm meine Gründe auseinanderzusetzen. Ich habe keine Lust, Sie auch noch böse zu machen.«

      Er nahm keine Notiz von diesen letzten Worten.

      »Ist Hugh nicht ein guter Junge?« fuhr er zu fragen fort. »Ist er nicht freundlich und gutherzig und ehrenhaft? Ist er nicht ein hübscher Mensch, wenn wir auch darauf kommen wollen?«

      »Hugh ist alles das, was Sie sagen. Ich habe ihn gern, ich bewundere ihn, ich verdanke seiner Güte einige der glücklichsten Tage meines traurigen Lebens und bin ihm dankbar – o, von ganzem Herzen bin ich Hugh dankbar!«

      »Wenn das wahr ist, Iris –«

      »Jedes

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