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Die Schlucht. Иван Гончаров
Читать онлайн.Название Die Schlucht
Год выпуска 0
isbn
Автор произведения Иван Гончаров
Жанр Русская классика
Издательство Public Domain
Stundenlang kann er dasitzen und mit krankhafter Spannung die trübseligen Schicksale der »Verhexten Thekla« verfolgen. Alle möglichen Schmöker liest er zusammen; kommt ihm der »Sächsische Räuber« in die Finger, dann ruht er nicht, bis er mit ihm durch ist; er holt sich die Schriften Eckardthausens aus dem Bücherschrank und sucht durch den Nebel dieser wüsten Phantasien zu klaren Vorstellungen zu gelangen; zehnmal liest er den »Tristram Shandy«, den ihm ein Zufall in die Hand spielt; er entdeckt einen Band mit dem Titel »Geheimnisse der orientalischen Magie« – und vertieft sich sogleich in seine Lektüre; russische Märchen und Sagen kommen dann an die Reihe, und plötzlich wirft er sich wieder auf Ossian, Tasso und Homer, oder er unternimmt mit Cook gefahrvolle Reisen in unbekannte Welten.
Hat er gerade nichts vor, so liegt er tagelang unbeweglich da, doch hat sein Nichtstun den Anschein, als verrichte er eine schwere Arbeit: seine Phantasie treibt ihn weit hinaus über Ossian und Tasso und selbst über Cook, oder irgendein zufälliger Eindruck, eine vorübergehende Sensation versetzt ihn in fieberhafte Erregung, und er erhebt sich matt und bleich und kann lange nicht in einen normalen Zustand kommen.
»Ein Nichtstuer und Faulpelz!« heißt es allgemein. Er fürchtete dieses Urteil, vergoß im stillen Tränen darüber und sann verzweifelt darüber nach, warum man ihn eigentlich einen Faulpelz und Nichtstuer nenne.
»Was bin ich eigentlich? Was wird aus mir werden?« dachte er und vernahm die rauhe Antwort auf diese Frage:
»Lerne, wie die Sawrassow, Kowrigin, Maljujew, Tschudin und all die anderen Musterschüler lernen!«
Ja, die sind gleich beschlagen in der Mathematik wie in der Geschichte, sie schreiben gute Aufsätze, sind geschickte Zeichner, haben gute Kenntnisse in den fremden Sprachen und in sonstigen Fächern – die Glücklichen! Alle Welt achtet sie, sie schauen so stolz drein, schlafen so ruhig und bleiben stets sich selbst gleich.
Und er ist heute bleich und schweigt, als wäre er vor den Kopf geschlagen – und morgen springt er umher und singt Gott weiß, weshalb.
Am peinlichsten empfand er das kränkende Mitleid des Pedells Sidorytsch, wiewohl ihm andererseits dessen schlichte Gutmütigkeit wohltat. Er hatte einmal in zwei Lektionen hintereinander seine Aufgaben nicht gelernt und sollte, falls er sie bis zum nächsten Morgen nicht lernte, zur Strafe kein Mittagessen bekommen. Er hatte keine Zeit mehr, sie zu lernen, alles schlief bereits, und das Haus lag finster. Da stand Sidorytsch leise auf, machte Licht und brachte für Raiski das Buch aus dem Klassenzimmer.
»Immer lerne, Väterchen,« sagte er, »während sie schlafen. Niemand wird es sehen, und morgen wirst du es besser können als sie: warum beleidigen sie dich nur immer, du arme Waise?«
Die Tränen traten Raiski in die Augen – er weinte über die Beleidigungen, von denen Sidorytsch sprach, und über dessen Gutherzigkeit. Er sah, wie die anderen Schüler im festen Schlaf dalagen – und er lernte, aus lauter Stolz, die Lektion nicht.
Kam dagegen seine Eigenliebe ins Spiel, fanden seine Nerven die entsprechende Anregung, dann bedurfte es nur eines einzigen Blickes ins Buch, und er nahm, was er lernen sollte, gleichsam auf photographischem Wege in sein Gedächtnis auf, merkte sich ganze Zifferreihen, löste die schwersten Aufgaben und setzte ganz unvermutet, wie ein aufflammendes Feuerwerk die ganze Klasse samt dem Lehrer in Erstaunen.
»Er verstellt sich!« dachten die Schüler. – »Was für Fähigkeiten hat doch dieser Faulpelz!« meinte der Lehrer. Er fühlte es deutlich, daß er kein Nichtstuer und Faulpelz war, sondern etwas anderes; er war jedoch der einzige, der das fühlte und begriff – nur das eine begriff er nicht, was er eigentlich war, und kein Mensch fand sich, der es ihm erklärt und ihn darüber belehrt hätte, ob die Mathematik, oder was sonst für ihn das Richtige sei.
Als er dann später in Dienst trat, waren seine Vorgesetzten noch mehr geneigt, ihn für einen Hohlkopf zu halten. Er lieferte nicht einen einzigen zufriedenstellenden Bericht, arbeitete nicht ein Aktenstück vorschriftsmäßig durch und brachte dafür einen Schwall von Heiterkeit, Lachen und Anekdoten in das Amtszimmer mit, in dem er saß. Beständig war eine ganze Schar von Leuten um ihn versammelt.
Dabei war ihm jedoch der Kernpunkt der Sache, um die es sich handelte, stets klar – nur wollte er ihn mehr spielend und tändelnd behandeln, nicht in der strengen, papiernen Form, die der Dienstweg vorschrieb; ganz so wie er früher wohl die russische Sprache geliebt, aber alles, was nach grammatischem Zwang aussah, verabscheut hatte.
Er verblüffte die übrigen Beamten oft durch die Neuheit seiner Auffassung. Der Tischvorsteher hörte ihn lächelnd an, nahm die Akten, die Raiski bearbeiten sollte, übergab sie irgend einem andern Beamten und sagte:
»Machen Sie lieber den Bericht dazu, bevor Boris Pawlowitsch sein Projekt hinmalt!«
Der Tischvorsteher hatte recht: Raiski sah die Dinge wie ein Gemälde und gab sie auch als ein solches wieder.
Seine Einbildungskraft flammte auf, er sah intuitiv das Wesentliche, seine Phantasie ergänzte das Bild, und er empfand nicht mehr das Bedürfnis, durch Arbeit und Erfahrung die Sache, um die es sich handelte, auf festem Boden weiterzuführen.
Er war ihrer schon müde, es drängte ihn weiter, Augen und Geist suchten etwas Neues, und er schwebte bereits auf den Flügeln der Phantasie über die Abgründe, Berge und Ozeane hin, über die sich die Menschheit nur mit harter Mühe und Geduld den Weg bahnt.
Sein Wissen und seine Kenntnisse besaß er nicht so wie andere, er sah sie nur gleichsam im Spiegel der Phantasie, als etwas Fertiges, fühlte ihren Besitz und freute sich seiner; die Aneignung des Wissens langweilte ihn, und ward er eines Gegenstandes einmal überdrüssig, dann schob er ihn zur Seite und suchte etwas anderes, Lebendiges, Überraschendes, was in ihm selbst lebhafte Reflexe hervorrief und ihm die Möglichkeit gewährte, Leben gegen Leben zu geben.
Es fand sich kein Mensch in seiner nächsten Umgebung, der diese heiße Begier nach lebendigem Erfassen in bestimmte Bahnen gelenkt hätte.
Der Vormund und die Großtante hatten die Sorgfalt, die sie ihm zuwandten, immer nur auf das Äußerliche gerichtet. Jener hatte darauf gesehen, daß die Lehrer, die ihn zu Hause unterrichteten, stets pünktlich zur Lektion erschienen, und daß er selbst in der Schule keine Stunden versäumte. Und die Großtante war vor allem darauf bedacht, daß er gesund bliebe, daß Appetit und Schlaf in Ordnung wären, daß er auf seinen äußeren Menschen hielte und, wie es sich für einen wohlerzogenen Knaben schickte, nicht mit Krethi und Plethi verkehrte.
Was er las, welche Bücher er verschlang, darum kümmerten sie sich nicht weiter. Die Großtante übergab ihm die Schlüssel zur Bibliothek seines Vaters in dem alten Hause, und dort verschloß er sich nun und las regellos alles durcheinander, bald Spinoza, bald einen Roman, bald die Bekenntnisse des heiligen Augustin, Voltaire oder gar Boccaccio.
Die Künste lagen ihm besser als die Wissenschaften. Allerdings ging auch hier bei ihm nicht alles nach der Schnur. So hatte der Zeichenlehrer einmal der Klasse die Aufgabe gestellt, ein Augenpaar zu zeichnen. Ganze vierzehn Tage waren hierfür in Aussicht genommen; aber Raiski hielt es so lange nicht aus, er fügte zu den Augen noch die Nase und war eben dabei, auch den Schnurrbart zu zeichnen, als der Lehrer ihn bei diesem vorschriftswidrigen Tun überraschte. Er packte ihn beim Schopfe und schüttelte ihn ganz gehörig, dann aber begann er die Zeichnung eingehend zu betrachten.
»Wo hast du das gelernt?« fragte er ihn.
»Nirgends,«