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und Neigungen und seinen Charakter aus den Gesichtszügen herauszulesen, da der Ausdruck seines Gesichts überaus veränderlich war.

      Bisweilen erschien er so glücklich, und seine Augen hatten einen solchen Glanz, daß der Beobachter ohne weiteres geneigt gewesen wäre, in ihm einen offenen, mitteilsamen, ja sogar ein wenig geschwätzigen Menschen zu sehen. Doch schon eine oder zwei Stunden später mußte ihn die Blässe seines Gesichts betroffen machen, die auf ein unheilbares inneres Leiden schließen ließ und den Eindruck machte, als habe er seit seiner Geburt nie gelächelt.

      Er erschien in solchen Augenblicken geradezu häßlich; seine Züge hatten etwas Disharmonisches, und ein krankhafter Farbenton trat an Stelle des frischen Kolorits seiner Stirn und seiner Wangen.

      Wenn dagegen die Wogen seines Lebens ruhig gingen, oder wenn er einfach guter Laune war, spiegelte sich in seinem Gesicht ein Reichtum von Willenskraft, von innerer Harmonie und Selbstbeherrschung, zuweilen auch ein ihm vortrefflich stehender Freimut und eine ungewöhnliche Phantasiefülle, die namentlich von den dunklen Augensternen und den leicht vibrierenden Lippen auszustrahlen schienen. Noch schwieriger war es, seine moralische Physiognomie festzustellen: Er hatte Perioden, in denen er, wie er selbst sich ausdrückte, am liebsten »die ganze Welt hätte umarmen können«, in denen er mit bezaubernder Sanftmut jedem den Zutritt zu seinem Herzen freihielt und alle, die ihm in solchen Momenten nähertraten, ihn unbedingt für den liebenswürdigsten und besten Menschen erklärten.

      Dann aber hatte er wieder Zeiten, in denen fahle Flecke auf seinem Gesicht erschienen, in denen seine Lippen sich in nervösem Zucken verzerrten und er für alle Beweise der Freundschaft und Sympathie nur einen stumpfen, kalten Blick und rauhe Worte hatte. Wer ihn in diesem Zustande kennenlernte, schied von ihm, vielleicht für immer, in Erbitterung und Feindschaft.

      »Ein böser, kalter, hochmütiger Egoist!« meinten diejenigen, die ihn in seiner schlimmen Stunde gesehen.

      »Aber ich bitte Sie – er ist bezaubernd! Er hat uns alle hingerissen, alle sind entzückt von ihm!« sagten die anderen.

      »Ein Schauspieler!« behaupteten einige.

      »Ein grundfalscher Mensch!« ergänzten wieder andere.

      »Wenn er etwas erreichen will, dann findet er die schönsten Worte; beobachten Sie nur, wie seine Mienen spielen!«

      »Aber was fällt Ihnen ein, das ist das edelste Herz, das sich denken läßt, eine vornehme Natur, wenn auch nervös und leidenschaftlich, allzu feurig und reizbar!« ließen zwei, drei Freundesstimmen sich zu seiner Verteidigung vernehmen.

      So waren selbst seine nächsten Bekannten sich nie recht klar darüber, was sie aus ihm zu machen hatten. Schon in früher Kindheit, als er bei seiner Großtante erzogen wurde, und später auf der Schule waren die gleichen rätselhaften Züge, dieselbe Ungleichmäßigkeit und Unbestimmtheit der Neigungen bei ihm zutage getreten. Als der Vormund ihn auf die Schule brachte und er zum erstenmal im Klassenzimmer saß, hätte er, wie man annehmen sollte, als Neuling zu allererst den Fragen des Lehrers und den Antworten der Schüler seine Aufmerksamkeit zuwenden müssen.

      Statt dessen ließ er sich ganz von der äußeren Erscheinung des Lehrers fesseln; er musterte seine Gestalt, beobachtete, wie er sprach, wie er Tabak schnupfte, was er für Augenbrauen, was er für einen Bart hatte; dann studierte er das Petschaft aus Karneol, das an der Uhrkette auf dem Bauch des Lehrers herabbaumelte, und bemerkte schließlich, daß der Zeigefinger seiner rechten Hand in der Mitte gespalten war, so daß er wie eine Doppelnuß aussah.

      Hierauf musterte er jeden einzelnen Schüler und merkte sich die Sonderheiten eines jeden: bei dem einen waren Stirn und Schläfe nach innen gebogen, bei dem anderen traten die großen Kiefer weit hervor, dort stand bei zweien – bei dem einen auf der rechten, bei dem anderen auf der linken Kopfseite – das Haar in wirbelartigen Buscheln vom Schädel ab, und so weiter. Alle beobachtete und studierte er, insbesondere auch die Art, wie sie ihre Augen gebrauchten.

      Der eine sah vertrauensvoll auf den Lehrer, schien mit den Augen zu bitten, daß er ihn fragen möchte, und kratzte sich vor Ungeduld bald das Knie, bald den Kopf. Ein anderer blickte unsicher und wurde abwechselnd rot und blaß – er schien zu zweifeln und zu schwanken. Ein dritter hielt die Augen zu Boden geschlagen und hatte offenbar Angst davor, daß er gefragt würde. Ein vierter bohrte in seiner Nase und sah und hörte überhaupt nichts. Dieser dort schien ein Riese von ungewöhnlicher Kraft zu sein, und der Schwarze neben ihm war offenbar ein Schelm. Auch die Wandtafel, auf der die Exempel gerechnet wurden, ja selbst der Wischlappen und die Kreide entgingen seiner Beobachtung nicht. Gelegentlich machte er auch sich selbst zum Gegenstand seines Studiums, suchte sich vorzustellen, wie er dasitze, wie sein Gesicht wohl aussehe, was die anderen sich denken, wenn sie ihn ansehen, und welches Bild sie sich überhaupt von ihm machen.

      »Wovon sprach ich eben?« fragte ihn plötzlich der Lehrer, der bemerkt hatte, wie er seine Augen zerstreut durch den Klassenraum schweifen ließ.

      Zu seiner Verwunderung konnte ihm Raiski alles, was er vorgetragen hatte, Wort für Wort wiederholen.

      »Wie ist das zu verstehen?« fragte der Lehrer weiter. Das wußte nun Raiski nicht; seine Art zu hören war so mechanisch wie sein Schauen – er fing die Worte nur eben mit dem Ohr aus.

      Der Lehrer wiederholte seine Erklärung. Boris hörte zu, wie die Worte erklangen; die einen stieß der Lehrer kurz und knapp, wie abgerissen, hervor, die anderen trug er langgezogen, gleichsam singend vor, und dann schleuderte er wieder ein ganzes Dutzend wie eine Handvoll Nüsse aus dem Munde.

      »Nun?« fragte der Lehrer.

      Raiski wurde rot, ein leichter Angstschweiß trat ihm sogar auf die Stirn – er wußte nichts zu sagen und schwieg. Es war der Mathematiklehrer, der gerade Unterricht erteilte. Er ging an die Tafel, schrieb eine Ausgabe an und begann sie zu erklären. Raiski sah nur, wie flink und sicher er die Ziffern hinschrieb, wie er dann kehrt machte und auf ihn zukam, wie zuerst der Bauch des Lehrers mit dem Karneol und dann die Brust mit dem tabakbestreuten Vorhemd vor ihm auftauchte. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit – einzig nur der Sinn, die Bedeutung der Aufgabe.

      Mit Ach und Krach begriff er die Bruchrechnung, quälte sich auch noch durch die Geheimnisse der Algebra hindurch, als er jedoch an die Gleichungen kam, versagte sein Kopf gänzlich, und warum und wie man Quadratwurzeln zog, blieb ihm vollkommen gleichgültig.

      Der Lehrer quälte sich so manchesmal mit ihm ab und schloß fast jedesmal mit einem Seufzer.

      »Geh, setz’ dich auf deinen Platz, du bist eben ein Hohlkopf!« Wenn aber der Lehrer selbst seinen guten Augenblick hatte, wenn er die Aufgaben nicht aus dem Buche, sondern mehr in spielender Art aus dem Kopfe gab und ohne Wandtafel und Hefte, ohne Regeln und Rippenstöße arbeiten ließ, dann hatte Raiski, dank einer Fähigkeit, den Sinn der Dinge intuitiv zu erraten, das Resultat immer zuerst heraus.

      Er hatte in seinem Kopfe ein eigenes Ziffernsystem in Bildern; sie waren dort wie die Soldaten in Reih und Glied ausgerichtet. Er hatte sich gewisse Zeichen und Merkmale ausgedacht, die es ihm ermöglichten, die Zahlen momentan zu ordnen, zu addieren, zu multiplizieren und zu teilen; es waren zumeist die Gesichter von Bekannten, oder auch Tiergestalten, die er für diese Operationen verwandte.

      »Du scheinst mir doch kein Hohlkopf,« bemerkte der Lehrer. »Wenn er die Rechenregeln anwenden soll, die doch angeblich die Sache erleichtern, dann kann er nicht bis drei zählen – und so, ohne Regeln, rechnet er wie der Blitz! Die Regelmacher scheinen wirklich nicht viel schlauer gewesen zu sein, als wir beide!«

      Im sprachlichen Unterricht kam Raiski rasch vorwärts. Mit Leidenschaft las er geschichtliche Darstellungen, Epopöen, Romane und Märchen, borgte sich Bücher, wo er nur konnte, doch immer nur solche, in denen eine Handlung vorkam und die Phantasie mitarbeiten konnte, während alles Spekulative, trocken Lehrhafte ihn gleichgültig ließ. In der Geographie wußte er, wenn der Stoff in der Reihenfolge des Buches abgefragt wurde und die Länder, Völker, Flüsse und so weiter aufgezählt werden sollten, so gut wie gar nicht Bescheid. Rief der Lehrer zum Beispiel: »Zähl’ die Gebirge Europas auf!« – oder: »Nenne mir die Hafenstädte am Mittelmeer!« – so gab Raiski ganz gewiß keine Antwort.

      Begann er hingegen außerhalb der Klasse von fremden Meeren, Ländern

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