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auf. „Kann ich auch eine Flagge haben?“

      Der große Mann lächelte zu ihr hinunter. „Natürlich kannst du das, Emily Jane.“

      „Ich auch, ich auch!“, ertönte eine kleine Stimme.

      Emily drehte sich um und entdeckte ihre Schwester Charlotte, um deren Hals ein grell-violetter Schal hing, der überhaupt nicht zu ihren Marienkäfer-Stiefeln passte. Sie war gerade einmal ein Kleinkind, das kaum aufrecht stehen konnte.

      Die beiden Mädchen folgten ihrem Vater Hand in Hand über die Straße und in einen kleinen Laden, der hausgemachte Essiggurken und Soßen in Gläsern verkaufte.

      „Hallo Roy.“ Die Dame hinter der Ladentheke strahlte. Dann lächelte sie die zwei kleinen Mädchen an. „Seid ihr bereit für den Feiertag?“

      „Niemand begeht den Memorial Day wie Sunset Harbor“, sagte ihr Vater mit seiner lockeren Freundlichkeit. „Ich hätte gerne zwei Flaggen für die Mädchen, Karen.“

      Die Dame holte ein paar Fahnen hinter der Theke hervor. „Warum nehmt ihr nicht gleich drei davon?“, meinte sie. „Dann hast du auch eine!“

      „Warum nicht vier Fahnen?“, wollte Emily wissen. „Wir sollten Mami auch eine mitbringen.“

      Roys Kiefer spannte sich an und Emily wusste sofort, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Mami würde keine Fahne wollen. Mami war für den Wochenendtrip nicht einmal mit ihnen nach Sunset Harbor gekommen. Sie waren nur zu dritt. Wieder einmal. In letzter Zeit schienen sie immer häufiger nur zu dritt zu sein.

      „Zwei genügen völlig“, beschloss ihr Vater mit leicht angespannter Stimme. „Sie sind nur für die Kinder.“

      Die Frau hinter der Ladentheke gab den Mädchen je eine Flagge, doch ihre Freundlichkeit wurde durch eine peinliche Unbehaglichkeit ersetzt, als sie erkannte, dass sie versehentlich eine unausgesprochene, unsichtbare Linie überkreuzt hatte.

      Emily beobachtete, wie ihr Vater die Frau bezahlte und ihr dankte, wobei ihr sein gezwungenes Lächeln und seine angespannte Körperhaltung auffielen. Sie wünschte, sie hätte Mami nicht erwähnt. Sie schaute auf die Flagge in ihrer Hand, die in einem Handschuh steckte, und hatte plötzlich keine Lust mehr zu feiern.

      Emily schnappte nach Luft, sie befand sich wieder auf der High Street Sunset Harbors, doch diesmal mit Daniel an ihrer Seite. Sie schüttelte den Kopf, um die herumschwirrenden Gedanken zu vertreiben. Das war nicht das erste Mal, dass sie eine verlorene Erinnerung plötzlich wiedererlangte, doch die Erfahrung erschütterte sie immer noch zutiefst.

      „Geht es dir gut?“, fragte Daniel, der sie mit besorgter Miene sanft am Arm berührte.

      „Ja“, antwortete Emily mit schwacher Stimme. Sie versuchte zu lächeln, doch schaffte es gerade einmal, ihre Mundwinkel leicht anzuheben. Sie hatte Daniel nichts davon erzählt, dass ihre Kindheitserinnerungen Stück für Stück zurückkehrten, denn sie wollte ihn nicht verschrecken.

      Entschlossen, sich durch die aufdringlichen Erinnerungen nicht die Freude des Tages vermiesen zu lassen, stürzte sich Emily in die Feierlichkeiten. Seit sie diesen Tag zum letzten Mal hier verbracht hatte, waren schon viele Jahre vergangen, doch trotzdem war Emily von dem Spektakel fasziniert. Sie war verwundert, was diese Kleinstadt aus einer Feierlichkeit machen konnte. Die Traditionen der Stadt gehörte zu den Dingen, die sie mittlerweile an Sunset Harbor zu lieben gelernt hatte. Sie ahnte, dass der Memorial Day zu einem weiteren ihrer Lieblings-Feiertage werden würde.

      „Hi, Emily!“, rief Raj Patel von der anderen Straßenseite aus. Er und seine Frau Dr. Sunita Patel, die Emily mittlerweile als gute Freunde ansah, spazierten die Straße entlang.

      Emily winkte ihnen zu, bevor sie sich an Daniel wandte: „Oh, schau nur. Da sind Birk und Bertha. Und liegt da nicht Baby Katy in dem Kinderwagen von Jason und Vanessa?“ Dabei deutete sie auf den Besitzer der Tankstelle und seine behinderte Frau. Neben ihnen stand ihr Sohn, der Feuerwehrmann, der Emilys Küche vor einem Inferno gerettet hatte. Er und seine Frau hatten vor kurzem ihr erstes Kind, ein Mädchen namens Katy, bekommen und einen von Emilys Welpen als Geschenk für ihre Tochter bei sich aufgenommen. „Wir sollten zu ihnen hinübergehen und hallo sagen“, meinte Emily, die mit ihren Freunden sprechen wollte.

      „Gleich“, erwiderte Daniel und stieß sie mit seiner Schulter an. „Die Parade beginnt.“

      Emily schaute die Straße hinunter, wo sich die Blaskapelle der High School formierte, um mit dem Festzug zu beginnen. Nun wurde die Trommel geschlagen und gleich darauf setzten die Blechblasinstrumente mit dem Lied „When the Saints Go Marching In“ ein. Emily sah verzückt zu, wie die Band an ihr vorbeizog. Hinter ihnen liefen Cheerleader, die passende rot-weiß-blaue Kostüme trugen. Sie machten Rückwärts-Saltos und schmissen ihre Beine in die Luft, während sie der Band folgten.

      Als nächstes kam eine Gruppe Kindergartenkinder, deren Gesichter bemalt waren. Sie hatten dicke Wangen und schauten engelhaft aus. Bei ihrem Anblick verspürte Emily einen kleinen Stich. Kinder zu bekommen war für sie nie besonders wichtig gewesen – in Anbetracht der Tatsache, wie angespannt das Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter war, hatte sie es nicht eilig, selber eine zu werden – doch nun, als sie die Kinder während der Parade sah, erkannte Emily, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Jetzt brannte ein neues, ziehendes Verlangen in ihr. Sie schaute zu Daniel und fragte sich, ob er wohl genauso empfand, ob der Anblick der liebenswürdigen Kleinkinder den gleichen Effekt auf ihn hatte, doch wie immer war sein Ausdruck schwer zu lesen.

      Die Parade ging weiter. Als nächstes kam eine Gruppe abgehärtet aussehender Frauen vom ortsansässigen Skate-Club. Sie sprangen mit ihren Skateboards umher und rasten den Weg entlang. Ihnen folgten ein paar Stelzenläufer sowie ein großes Floß, auf dem sich eine aus Karton geformte Statue Abraham Lincolns befand.

      „Emily, Daniel“, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Es war Bürgermeister Hansen, an dessen Seite Marcella stand, die mehr als nur ein wenig gestresst aussah. „Gefallen Ihnen die Festlichkeiten?“, fragte Bürgermeister Hansen. „Es mag zwar nicht das erste Mal sein, dass Sie die Parade sehen, aber vielleicht das erste, an das Sie sich erinnern werden.“

      Er gluckste unschuldig, doch Emily wand sich innerlich. Sie versuchte, nach außen hin ruhig und fröhlich zu wirken.

      „Sie haben Recht. Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, als Kind hierhergekommen zu sein, aber es gefällt mir sehr gut. Was ist mit Ihnen, Marcella?“, fügte sie hinzu, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. „Sind Sie zum ersten Mal hier?“

      Marcella nickte nur kurz und entschieden, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihr Klemmbrett.

      „Beachten Sie sie gar nicht.“ Bürgermeister Hanson gluckste. „Sie ist ein Workaholic.“

      Marcella schaute kurz auf, doch Emily genügte der Moment, um die Frustration in ihren Augen zu sehen. Es war offensichtlich, dass sie von der entspannten Einstellung des Bürgermeisters genervt war. Emily konnte mit Marcella mitfühlen. Vor sechs Monaten war sie genauso gewesen: zu ernst, zu gestresst, sie hatte sich nur mit Kaffee auf den Beinen halten können und hatte Angst davor gehabt, zu versagen. Marcella anzusehen war, wie ein Spiegelbild ihres jüngeren Selbst vor Augen zu haben. Emily hoffte nur, dass sie schnell lernen würde, sich zu entspannen, und dass Sunset Harbor ihr dabei helfen würde, ihre eng gespannten Nerven zu lockern, wenn auch nur ein kleines bisschen.

      „Wie dem auch sei“, meinte Hansen, „lassen Sie uns zum Punkt kommen. Ich muss Medaillen verteilen, nicht wahr, Marcella? Es findet eine Preisverleihung für so ein Ei-und-Löffel-Rennen statt.“

      „Es sind Olympische Spiele für unter Fünfjährige“, verbesserte ihn Marcella mit einem tiefen Seufzer.

      „Genau, das meinte ich“, entgegnete Bürgermeister Hansen und die beiden verschwanden wieder in der Menge.

      Daniel lächelte. „Es ist einfach unmöglich, sich nicht in diese verrückte Stadt zu

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