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gleiten war überwältigend. Die Spannweite ihrer Flügel entzückte sie, und sie war begeistert, die frische Nachtluft im Gesicht, in den Haaren und am ganzen Körper zu spüren. Zwar war Nacht, doch der Mond war so groß, dass es beinahe taghell war.

      Als Caitlin nach unten blickte, konnte sie die Welt aus der Vogelperspektive bewundern. Sie hatte Wasser gespürt, und damit lag sie richtig, denn sie befand sich auf einer Insel. In alle Richtungen breitete sich ein großer, wunderschöner Fluss aus, dessen Wasser ganz ruhig war und im Mondlicht glänzte. Noch nie hatte sie so einen breiten Fluss gesehen. In der Mitte lag die winzige Insel, auf der sie geschlafen hatte. Sie war kaum größer als ein paar Morgen, und an einer Seite wurde sie von einem zerfallenden, schottischen Schloss beherrscht – eigentlich war es eine halbe Ruine. Der Rest der Insel war mit dichtem Wald bedeckt.

      Caitlin ließ sich von den Luftströmungen tragen, flog mal höher, mal tiefer, drehte sich, stürzte sich in die Tiefe und stieg wieder auf. Dabei umrundete sie die Insel. Das Schloss war groß und prächtig. Teile davon waren zerfallen, aber andere Bereiche, die man von außen nicht sehen konnte, waren absolut intakt. Es gab Innen- und Außenhöfe, Befestigungsmauern, Türme, Wendeltreppen und sehr weitläufige Gartenanlagen. Das Schloss bot genug Platz für eine kleine Armee.

      Als sie sich tiefer sinken ließ, entdeckte sie, dass das Schlossinnere von Fackeln erleuchtet war. Außerdem liefen Leute herum. Waren sie Vampire? Ihre Wahrnehmung sagte ihr, dass es so war. Ihresgleichen. Manche von ihnen trainierten, kämpften mit Schwertern und spielten Spiele. Auf der Insel herrschte emsige Geschäftigkeit. Wer waren diese Leute? Warum war Caitlin hier? Hatten sie sie aufgenommen?

      Nachdem Caitlin ihre Runde beendet hatte, sah sie den Raum, aus dem sie herausgesprungen war. Sie hatte ganz oben in dem höchsten Turm geschlafen, auf dem sich eine weite, offene Terrasse mit einer Brustwehr befand. Dort stand ein einsamer Vampir. Caitlin musste nicht näher heranfliegen, um herauszufinden, wer dieser Vampir war, denn sie wusste es bereits. Sein Blut floss jetzt in ihren Adern, und sie liebte ihn von ganzem Herzen. Nachdem er sie verwandelt hatte, liebte sie ihn mit einer Inbrunst, die noch stärker war als Liebe. Selbst aus dieser großen Entfernung spürte sie, dass die einsame Gestalt, die vor dem Turmzimmer auf- und abging, Caleb war.

      Bei seinem Anblick schlug ihr Herz sofort schneller. Er war da. Er war wirklich da und wartete vor ihrem Zimmer. Die ganze Zeit hatte er gewartet, während sie sich erholt hatte.

      Wie viel Zeit wohl inzwischen vergangen war? Nie war er ihr von der Seite gewichen. Trotz allem, was passiert war. Sie liebte ihn mehr, als sie sagen konnte, und nun konnten sie endlich für immer zusammenbleiben.

      Er lehnte an der Mauerbrüstung und blickte auf den Fluss hinunter. Dabei wirkte er sowohl besorgt als auch traurig.

      Im Sturzflug näherte Caitlin sich dem Schloss – sie wollte Caleb überraschen und mit ihren neuen Fertigkeiten beeindrucken.

      Verblüfft sah Caleb auf, dann leuchtete sein Gesicht vor Freude auf.

      Doch als Caitlin landen wollte, lief auf einmal etwas schief. Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, und ihre Koordination stimmte nicht mehr. Sie hatte das Gefühl, zu schnell zu sein, konnte ihren Fehler jedoch nicht mehr rechtzeitig korrigieren. Bei der Landung schürfte sie sich das Knie an der Mauerbrüstung auf und kam so hart auf, dass sie über den Steinboden kullerte.

      »Caitlin!«, rief Caleb besorgt und lief zu ihr hinüber.

      Keuchend lag sie auf dem harten Stein, während ein neuer Schmerz durch ihr Bein schoss. Aber es ging ihr gut. Wäre sie noch die alte Caitlin gewesen, hätte sie sich bestimmt sämtliche Knochen gebrochen. Doch diese neue Caitlin würde sich im Handumdrehen erholen, wahrscheinlich schon nach wenigen Minuten.

      Trotzdem war ihr der Vorfall sehr peinlich, denn eigentlich hatte sie Caleb überraschen und beeindrucken wollen. Jetzt stand sie da wie eine Idiotin.

      »Caitlin?«, wiederholte er. Inzwischen kniete er neben ihr und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. »Alles in Ordnung?«

      Mit einem verlegenen Grinsen erwiderte sie seinen Blick.

      »Ich wollte dich beeindrucken«, antwortete sie und kam sich ziemlich blöd vor.

      Er strich mit der Hand über ihr Bein und untersuchte ihre Verletzung.

      »Ich bin kein Mensch mehr!«, schnauzte sie ihn an. »Du musst dir keine Sorgen mehr um mich machen.«

      Sofort bereute sie ihre Worte und ihren Ton. Es hatte wie ein Vorwurf geklungen, fast so, als würde sie es bereuen, dass er sie verwandelt hatte. Und ihr Ton hatte sich gegen ihren Willen ziemlich harsch angehört. Dabei liebte sie doch seine Berührung, liebte die Tatsache, dass er sie immer noch beschützen wollte. Eigentlich hatte sie sich bei ihm bedanken wollen, aber jetzt hatte sie es – wie so oft – vermasselt und genau das Falsche zum falschen Zeitpunkt gesagt.

      Was für ein furchtbarer erster Eindruck als neue Caitlin! Offensichtlich konnte sie ihren Mund immer noch nicht halten. Manche Dinge änderten sich eben nie, nicht einmal, wenn man unsterblich war.

      Als sie sich aufsetzte, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen und sich zu entschuldigen, hörte sie plötzlich ein Jaulen und spürte etwas Pelziges im Gesicht. Sie lehnte sich zurück und erkannte schnell, was das war.

      Rose, ihr Wolfswelpe. Begeistert stürzte das Tier sich in Caitlins Arme und jaulte aufregt. Dabei leckte es ihr das ganze Gesicht ab. Caitlin musste lachen und umarmte den kleinen Wolf, bevor sie ihn genauer betrachtete.

      Zwar war Rose immer noch ein Welpe, aber sie war gewachsen und schon größer, als Caitlin sie in Erinnerung hatte. Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie Rose zuletzt in der King’s Chapel gesehen hatte, wo sie blutend am Boden lag, nachdem Samantha auf sie geschossen hatte. Sie war sich so sicher gewesen, dass der Welpe tot war.

      »Sie ist durchgekommen«, erklärte Caleb, der wie immer ihre Gedanken gelesen hatte. »Sie ist zäh, genau wie ihr Frauchen«, fügte er lächelnd hinzu.

      Caleb musste die ganze Zeit auf sie beide aufgepasst haben.

      »Wie lange habe ich geschlafen?«, wollte Caitlin wissen.

      »Eine Woche lang«, antwortete Caleb.

      Eine Woche lang, dachte Caitlin. Unglaublich.

      Sie fühlte sich, als hätte sie jahrelang geschlafen, als wäre sie gestorben und wieder zum Leben erwacht, aber in einer neuen Form. Irgendwie war sie wie reingewaschen, so, als würde sie ein Leben als unbeschriebenes Blatt beginnen.

      Doch als ihr die ganzen Ereignisse wieder einfielen, begriff sie, dass eine Woche tatsächlich eine Ewigkeit sein konnte. Das Schwert war gestohlen worden. Und ihr Bruder Sam war entführt worden. Eine ganze Woche war bereits verstrichen. Warum hatte Caleb die Täter nicht verfolgt, wo doch jede Minute zählte?

      Als Caleb sich erhob, stand Caitlin ebenfalls auf. Sie standen sich gegenüber und sahen sich in die Augen. Ihr Herz schlug heftig, aber sie wusste nicht, was sie tun sollte. Was verlangten die Regeln, nachdem sie nun beide echte Vampire waren? Er war derjenige, der sie verwandelt hatte. Waren sie jetzt ein Paar? Liebte er sie noch genauso sehr wie vorher? Würden sie jetzt für immer zusammen sein?

      In gewisser Weise war sie nervöser als je zuvor, zumal auch mehr als je zuvor auf dem Spiel stand.

      Langsam streckte sie die Hand aus und berührte seine Wange.

      Er erwiderte ihren Blick, und seine Augen strahlten im Mondlicht.

      »Danke«, sagte sie leise.

      Eigentlich hatte sie sagen wollen: Ich liebe dich, aber es war anders gekommen. Sie hatte ihn fragen wollen: Wirst du für immer bei mir sein? Liebst du mich noch? Doch trotz ihrer neuen Fähigkeiten hatte sie nicht den Mut, es auszusprechen. Sie hätte wenigstens sagen können: Danke, dass du mich gerettet hast, oder: Danke, dass du auf mich aufgepasst hast, oder: Danke, dass du hier bist. Schließlich wusste sie, wie viel er aufgegeben hatte, um hier zu sein, wie viel er geopfert hatte. Aber alles, was sie zustande brachte, war ein einfaches Danke.

      Jetzt lächelte er, hob eine Hand, schob ihr die Haare zurück und strich sie ihr hinters Ohr. Dann streichelte er mit dem Handrücken

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