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Person zuzusehen, die dir am wichtigsten ist. Ich spüre, dass du dir selbst nicht am wichtigsten bist. Es ist dieser Junge. Dieser jämmerliche kleine Menschenjunge. Also gut«, fügte er hinzu und beugte sich grinsend vor. »Dann wird das deine Strafe sein: Wir werden diesem Jungen schreckliche Schmerzen zufügen.«

      Samanthas Herz schlug heftig. Das hatte sie nicht vorhergesehen, sie konnte es nicht zulassen. Um keinen Preis.

      Umgehend wurde sie aktiv und sprang auf Sams Bewacher zu. Es gelang ihr sogar, einen von ihnen heftig gegen die Brust zu treten, sodass er mehrere Meter rückwärts flog.

      Aber bevor sie den andern angreifen konnte, hatten sich schon mehrere Vampire auf sie gestürzt und sie zu Boden geworfen. Mit aller Kraft versuchte sie sich zu wehren, aber da sie in der Überzahl waren, hatte sie keine Chance.

      Hilflos musste sie zusehen, wie Sam in die Mitte des Raumes gezerrt wurde. Sie brachten ihn an die Stelle, an der in der Regel die Bestrafungen mit Weihwasser durchgeführt wurden. Für Vampire war diese Strafe unbeschreiblich schmerzhaft, und danach blieben sie lebenslang entstellt.

      Da Sam ein Mensch war, war für ihn eine Bestrafung mit konzentrierter Säure vorgesehen. Die Schmerzen waren nicht abzuschätzen, die Folge der Säureattacke wäre auf jeden Fall ein entsetzlicher Tod. Also führten sie Sam zu seiner Hinrichtung. Und Samantha wurde gezwungen, dabei zuzusehen.

      Rexus’ Grinsen wurde noch breiter, als Sam am Boden angekettet wurde. Auf ein Nicken des Meisters hin riss einer der Bewacher Sam das Klebeband vom Mund.

      Sams Blick suchte sofort Samantha, seine Augen waren vor Furcht geweitet.

      »Samantha!«, schrie er. »Bitte, rette mich!«

      Gegen ihren Willen brach sie in Tränen aus. Es gab nichts, was sie hätte tun können, absolut nichts.

      Sechs Vampire rollten einen riesigen Eisenkessel herbei, der ganz oben auf einer Leiter befestigt war. Dann rückten sie ihn direkt über Sams Kopf in Position.

      Sam blickte auf.

      Das Letzte, was er sah, war eine brodelnde und zischende Flüssigkeit, die über den Rand des Kessels schwappte und ihm jeden Augenblick ins Gesicht spritzen würde.

      4. Kapitel

      Caitlin rannte durch ein Blumenfeld. Die Blumen reichten ihr bis zur Taille, und sie pflügte regelrecht einen Pfad hindurch. Die blutrote Sonne stand wie eine riesige Kugel am Horizont.

      Mit dem Rücken zur Sonne wartete in der Ferne ihr Vater. Zwar konnte sie sein Gesicht nicht sehen, aber sie erkannte seine Silhouette – daher wusste sie, dass er es war.

      Während Caitlin immer weiterlief, weil sie sich so sehnlichst wünschte, ihn endlich zu treffen und in die Arme zu schließen, versank die Sonne schnell hinter dem Horizont und war innerhalb weniger Sekunden vollkommen verschwunden.

      Plötzlich herrschte absolute Dunkelheit. Caitlins Vater wartete immer noch auf sie. Sie spürte, dass er sie dazu bewegen wollte, noch schneller zu laufen, um sie endlich umarmen zu können. Aber ihre Beine konnten nicht noch schneller rennen. Obwohl sie sich größte Mühe gab, schien sie ihm nicht näher zu kommen.

      Auf einmal ging der Mond auf – ein riesiger, blutroter Mond, der fast den ganzen Himmel ausfüllte. Caitlin konnte alle Einzelheiten an seiner Oberfläche erkennen, sämtliche Erhebungen, Täler und Krater. Jetzt zeichnete sich ihr Vater als Silhouette gegen den Mond ab, und sie hatte das Gefühl, direkt auf den Mond zuzulaufen.

      Doch plötzlich kam sie nicht mehr weiter, ihre Beine bewegten sich nicht mehr. Als sie hinuntersah, entdeckte sie, dass die Blumen sich um ihre Fußknöchel und Beine gewunden hatten. Jetzt sahen sie aus wie Schlingpflanzen, und sie waren so dick und stark, dass Caitlin sich nicht mehr rühren konnte.

      Und dann glitt eine gigantische Schlange durch das Feld auf sie zu. Panisch versuchte Caitlin, sich loszureißen und zu fliehen, aber sie hatte keine Chance. Die Schlange kam näher, löste sich vom Boden und stürzte sich auf Caitlins Hals. Als sich die langen Fangzähne in ihren Hals bohrten, schrie sie laut auf. Der Schmerz war entsetzlich.

      Mit einem Ruck wachte Caitlin auf, saß senkrecht im Bett und atmete heftig. Als sie sich an den Hals griff, spürte sie zwei verkrustete Wunden. Einen Augenblick lang brachte sie ihren Traum und die Gegenwart durcheinander und sah sich nach einer Schlange um. Es war keine zu sehen.

      Verwirrt rieb sie sich den Hals. Die Wunden schmerzten noch, aber nicht so stark wie in ihrem Traum. Caitlin atmete tief durch.

      Ihre Haut war mit kaltem Schweiß überzogen, ihr Herz schlug immer noch heftig. Als sie sich das Gesicht und die Schläfen abwischte, spürte sie, dass ihr die nassen Haare am Kopf klebten. Wie lange war es her, seit sie zuletzt gebadet hatte? Ihre Haare gewaschen hatte? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Wie lange hatte sie hier gelegen? Und wo war sie überhaupt?

      Sie sah sich in dem Raum um. Irgendwie kam ihr der Ort bekannt vor – hatte sie davon geträumt, oder war sie vorher schon einmal wach gewesen? Die Wände waren komplett aus Stein, und es gab ein großes Rundbogenfenster, durch das sie in den Nachthimmel hinausblicken konnte. Das Licht des riesengroßen Vollmonds fiel in den Raum.

      Vorsichtig schwang sie die Beine über den Bettrand und rieb sich die Stirn, während sie sich zu erinnern versuchte. Dabei durchschoss ein schrecklicher Schmerz ihre Seite. Als sie an die Stelle fasste, spürte sie eine verschorfte Wunde. Woher stammte die Wunde? War sie angegriffen worden?

      Als Caitlin scharf nachdachte, fielen ihr langsam, aber sicher die Einzelheiten wieder ein. Boston. Der Freedom Trail. Die King’s Chapel. Das Schwert. Dann … der Angriff von hinten. Dann …

      Caleb. Er war dort gewesen und hatte auf sie hinuntergeblickt. Die Welt war ihr allmählich entglitten, und sie hatte ihn um etwas gebeten. Verwandle mich, hatte sie ihn angefleht …

      Als Caitlin erneut die Hände hob und die beiden Wundmale an der Seite ihres Halses fühlte, wusste sie, dass er ihre Bitte erfüllt hatte.

      Das erklärte alles. Schlagartig begriff sie, was geschehen war: Sie war verwandelt worden. Dann hatte man sie irgendwohin gebracht, damit sie sich erholen konnte. Wahrscheinlich hatte Caleb aufmerksam über sie gewacht. Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, drehte den Kopf, untersuchte ihren Körper …

      Sie fühlte sich anders, so viel war sicher. Irgendwie war sie nicht mehr sie selbst. Eine grenzenlose Kraft durchströmte sie. Sie hatte das Bedürfnis, zu rennen, Wände zu durchbrechen, in die Luft zu springen. Außerdem spürte sie noch etwas anderes: Auf ihrem Rücken unterhalb ihrer Schulterblätter waren zwei leichte Wölbungen. Flügel. Und sie wusste, dass sie sich öffnen würden, wenn sie fliegen wollte.

      Caitlin war wie berauscht von ihrer neu entdeckten Kraft und wollte sie unbedingt ausprobieren. Die Decke fiel ihr auf den Kopf – sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war – und sie wollte unbedingt wissen, wie sich dieses neue Leben anfühlte. Außerdem empfand sie noch etwas, was neu für sie war: Sie fühlte sich draufgängerisch. So, als könnte sie nicht sterben, als könnte sie folgenlos dumme Fehler begehen und mit ihrem Leben spielen. Sie hatte Lust, am Rande des Abgrunds zu balancieren.

      Neugierig drehte sie sich um und sah aus dem Fenster in den Nachthimmel hinaus. Das Rundbogenfenster besaß kein Glas und würde in ein mittelalterliches Kloster passen.

      Das alte Menschenmädchen Caitlin aus der Vergangenheit hätte gezögert, nachgedacht und gezweifelt, ob sie wirklich tun sollte, was ihr in den Sinn gekommen war. Doch die wiedergeborene Caitlin handelte ohne jedes Zögern. Praktisch in dem Moment, in dem ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, sprintete sie schon los und setzte ihn in die Tat um.

      Mit wenigen schnellen Schritten hatte sie das Fenster erreicht, sprang auf die Brüstung und stürzte sich hinaus.

      Ihr Instinkt sagte ihr, dass ihre Flügel sich entfalten würden, sobald sie sich in der Luft befand. Falls sie falsch lag, würde sie abstürzen und viele, viele Meter weiter unten auf dem Boden aufschlagen. Doch die wiedergeborene Caitlin hatte nicht das Gefühl, je wieder etwas falsch machen zu können.

      Und ihr Gefühl trog sie nicht. Als sie in die Nacht hinaussprang,

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