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Städten war Paris eine Welt für sich. Die Straßen waren hier breiter, die Gebäude niedriger, und sie waren hübscher gestaltet. Die Stadt fühlte sich älter an, wertvoller, schöner. Sie war auch weniger überfüllt: je weiter sie sich von Notre Dame entfernte, umso weniger Leute sah sie. Vielleicht lag es nur daran, dass es spät am Abend war, doch die Straßen schienen fast leer.

      Sie ging weiter und weiter, ihre Beine und Füße wurden müde, und sie suchte an jeder Ecke nach einem Anzeichen von Caleb, irgendeinem Hinweis, der sie in eine bestimmte Richtung weisen würde. Es gab nichts.

      Alle zwanzig Blocks oder so wandelte sich die Gegend, und wie sie sich anfühlte, wandelte sich mit. Als sie weiter und weiter nach Norden zog, fand sie sich auf einem Hügel wieder, in einem neuen Bezirk, diesmal mit schmalen Gassen und mehreren Kneipen. Als sie an einer Eckkneipe vorbeikam, sah sie einen Mann, der betrunken und bewusstlos an der Wand lehnte. Die Straße war völlig leer, und einen Augenblick lang überflog Caitlin der schlimmste Hungerschmerz. Es fühlte sich an, als würde es ihr den Magen zerreißen.

      Sie sah den Mann da liegen, ihr Blick richtete sich auf seinen Hals, und sie sah das Blut darin pulsieren. In jenem Augenblick wollte sie nichts mehr, als sich auf ihn zu stürzen und zu trinken. Das Gefühl war stärker als ein Drang—es war vielmehr wie ein Befehl. Ihr Körper schrie sie an, es zu tun.

      Es brauchte jeden Funken von Caitlins Willenskraft, wegzusehen. Sie würde eher verhungern, als einem weiteren Menschen Leid zuzufügen.

      Sie blickte sich um und fragte sich, ob es hier einen Wald gab, einen Ort, an dem sie jagen konnte. Während ihr gelegentlich unbefestigte Pfade und Parks in der Stadt aufgefallen waren, hatte sie so etwas wie einen Wald nirgends gesehen.

      Genau in dem Moment flog die Tür zur Kneipe auf, und ein Mann stolperte heraus—wurde herausgeworfen, genauer gesagt—von einem der Bediensteten. Er fluchte und schrie sie an, eindeutig betrunken.

      Dann drehte er sich herum und nahm Caitlin ins Visier.

      Er war stämmig und betrachtete Caitlin mit düsteren Absichten.

      Sie fühlte, wie sie sich anspannte. Sie fragte sich erneut verzweifelt, ob sie noch über irgendwelche ihrer Kräfte verfügte.

      Sie wandte sich ab und ging davon, ging schneller, doch sie konnte spüren, dass der Mann ihr folgte.

      Bevor sie um die Ecke biegen konnte, packte er sie eine Sekunde später von hinten und umklammerte sie. Er war schneller und kräftiger, als sie sich vorstellen konnte, und sie konnte seinen schrecklichen Atem über ihre Schulter riechen.

      Aber der Mann war auch betrunken. Er taumelte, obwohl er sie festhielt, und Caitlin konzentrierte sich, dachte an ihr Training, trat zur Seite und warf ihn vornüber, mit einer der Kampftechniken, die Aiden ihr auf Pollepel beigebracht hatte. Der Mann flog durch die Luft und landete auf dem Rücken.

      Caitlin überkam ein plötzlicher Flashback nach Rom, dem Kolosseum, dem Kampf im Stadium, von mehreren Kämpfern attackiert. Es war so lebhaft, dass sie für einen Moment vergaß, wo sie war.

      Sie schnappte gerade rechtzeitig wieder daraus hervor. Der Betrunkene stand auf, stolperte und ging noch einmal auf sie los. Caitlin wartete bis zur letzten Sekunde, dann machte sie einen Schritt zur Seite, und er flog direkt aufs Gesicht.

      Er war benommen, und bevor er sich wieder aufraffen konnte, eilte Caitlin davon. Sie war froh, dass sie ihn bewältigen konnte, doch der Vorfall erschütterte sie. Es bereitete ihr Sorgen, dass sie immer noch Flashbacks nach Rom hatte. Sie hatte auch ihre übernatürliche Stärke noch nicht gespürt. Sie fühlte sich immer noch so zerbrechlich wie ein Mensch. Der Gedanke daran beängstigte sie mehr als alles andere. Sie war nun wahrhaftig allein.

      Caitlin blickte um sich, wurde langsam hektisch vor Sorge darüber, wohin sie gehen sollte, was sie als nächstes tun sollte. Ihre Beine schmerzten nach dem vielen Herumlaufen, und langsam überkam sie ein Gefühl der Verzweiflung.

      Und da entdeckte sie es. Sie blickte hoch und sah vor sich einen riesigen Hügel. Auf seiner Spitze stand eine große mittelalterliche Abtei. Aus einem unerklärlichen Grund fühlte sie sich zu ihr hingezogen. Der Hügel wirkte entmutigend, doch sie sah nicht, welche andere Wahl sie hatte.

      Caitlin erklomm den gesamten Hügel, geradezu erschöpfter als sie je gewesen war, und wünschte, sie könnte fliegen.

      Endlich erreichte sie das Eingangstor zur Abtei und blickte zu den massiven Eichentoren hoch. Dieser Ort wirkte uralt. Sie bewunderte die Tatsache, dass diese Kirche schon seit anscheinend tausenden Jahren hier stand, obwohl es 1789 war.

      Sie wusste nicht warum, doch sie fühlte sich an diesen Ort gezogen. Da es sonst nichts gab, wo sie hingehen konnte, fasste sie ihren Mut zusammen und klopfte sanft.

      Es kam keine Antwort.

      Caitlin probierte den Türgriff und stellte erstaunt fest, dass sie offen war. Sie trat ein.

      Das uralte Tor ächzte langsam auf, und es dauerte einen Moment, bis sich Caitlins Augen an die gähnende, dunkle Kirche gewöhnt hatten. Während sie sich umblickte, war sie beeindruckt von dem Ausmaß und der Feierlichkeit dieses Ortes. Es war immer noch spät nachts, und diese schlichte, karg gehaltene Kirche, zur Gänze aus Stein erbaut, geschmückt mit Bleiglasfenstern, war überall von großen, heruntergebrannten Kerzen beleuchtet. Am anderen Ende stand ein schlichter Altar, um den herum ein weiteres Dutzend Kerzen standen.

      Ansonsten wirkte sie leer.

      Caitlin fragte sich einen Moment lang, was sie hier machte. Gab es einen besonderen Grund dafür? Oder spielte ihr Verstand ihr nur Streiche?

      Plötzlich öffnete sich eine Seitentür, und Caitlin wirbelte herum.

      Zu Caitlins Überraschung kam eine Nonne auf sie zu—kleingewachsen, gebrechlich, in fließende weiße Roben mit einer weißen Kapuze gekleidet. Sie kam langsamen Schrittes direkt auf Caitlin zu.

      Sie zog sich die Kapuze vom Kopf, blickte zu ihr hoch und lächelte. Sie hatte große, leuchtend blaue Augen, und schien zu jung für eine Nonne zu sein. Ihr breites Lächeln ließ Caitlin eine Wärme verspüren, die von ihr ausging. Sie spürte auch, dass sie eine von ihnen war: ein Vampir.

      „Schwester Paine“, sagte die Nonne sanft. „Es ist eine Ehre, dich hier zu haben.“

      KAPITEL ZWEI

      Ihre Welt fühlte sich surreal an, als die Nonne Caitlin einen langen Korridor entlang durch die Abtei führte. Es war ein wunderschöner Ort, und es war deutlich, dass er aktiv bewohnt war, voll umherziehender Nonnen in weißen Roben, die sich, wie es schien, für den Morgengottesdienst fertig machten. Eine von ihnen schwang im Vorbeiziehen eine Karaffe und verbreitete so würzigen Weihrauch, während andere sanft Morgengebete sangen.

      Nach einigen Minuten schweigenden Dahingehens fragte sich Caitlin langsam, wohin die Nonne sie führen würde. Endlich blieben sie vor einer einzelnen Tür stehen. Die Nonne öffnete sie, und dahinter erschien ein kleines, bescheidenes Zimmerchen mit Blick über Paris. Es erinnerte Caitlin an das Zimmer, in dem sie in dem Kloster in Siena gewohnt hatte.

      „Auf dem Bett findest du Kleidung, in die du dich umziehen kannst“, sagte die Nonne. „Es gibt einen Brunnen zum Baden in unserem Innenhof“, sagte sie. Sie streckte den Zeigefinger aus: „Und das dort ist für dich.“

      Caitlin blickte an ihrem Zeigefinger entlang und erblickte ein kleines Steinpodest in einer Ecke des Zimmers, auf dem ein silberner Kelch stand, der mit einer weißen Flüssigkeit gefüllt war. Die Nonne lächelte zurück.

      „Du findest hier alles, was du für eine erfrischende Nachtruhe brauchst. Danach ist die Wahl dir überlassen.“

      „Wahl?“, fragte Caitlin.

      „Mir wurde gesagt, du bist bereits in Besitz eines Schlüssels. Du wirst die anderen drei finden müssen. Jedoch die Wahl, deine Mission zu erfüllen und deine Reise fortzusetzen, ist stets die Deine.

      Das hier ist für dich.“

      Sie überreichte Caitlin einen Zylinder aus Silber, der mit Juwelen besetzt war.

      „Es ist ein Brief von deinem Vater. Nur für dich. Wir bewahren ihn

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