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Onnen Visser. Sophie Worishoffer
Читать онлайн.Название Onnen Visser
Год выпуска 0
isbn
Автор произведения Sophie Worishoffer
Жанр Зарубежная классика
Издательство Public Domain
Das Kanonenboot lag an seiner gewohnten Stelle, auf dem Verdeck gingen die Ereignisse ihren alltäglichen Gang und nichts Besonderes wäre zu bemerken gewesen; aber dennoch wußte binnen wenigen Stunden die ganze Bevölkerung der Insel, was während der verwichenen Nacht auf dem Watt zwischen Baltrum und Neßmersiel geschehen war.
Unten im Raume des Kanonenbootes lagen gefesselt an Händen und Füßen die Gefangenen des heißen Kampfes, Klaus Visser, Heye Wessel, Lars Meinders und Andreas Fokke, neben ihnen zwei englische Marinesoldaten mit einem Unteroffizier – jedermann auf Norderney wußte es und jeder kannte den Verräter, dessen niederträchtige Treulosigkeit die Schmuggler ihren Feinden in die Hände lieferte.
Peter Witt sah aus, als habe er bereits im Grabe gelegen. Er schien nur zagend das Kanonenboot zu verlassen, er bebte heimlich, wenn ihm auf dem Wege in das Dorf irgendein Mensch begegnete.
Einen Augenblick hatte er daran gedacht, abzureisen, aber war dann nicht alle seine Mühe umsonst? Jetzt mußten sich die Franzosen seiner Ansicht nach dankbar beweisen, mußten ihn mit Ehren und Auszeichnungen überschütten. Wenn das die Norderneyer nicht mit ansahen, ihn nicht im Herzen auf das äußerste beneideten, welch einen Wert hatte dann noch die Sache?
Nein, bleiben wollte er doch um jeden Preis. Gleich nach dem Ereignis war ein Kanonenboot hinübergegangen nach Norddeich und hatte von dort aus einen reitenden Boten nach Emden geschickt. Der Präfekt Jeannesson mußte gegen Abend eintreffen – dann gewannen für ihn die Dinge ein anderes Ansehen.
Er konnte sich nicht entschließen, sein Haus aufzusuchen, sondern bog rechts ab und wanderte ziellos an den im Bau fast vollendeten Schanzen vorüber bis zur verfallenen Hütte der alten Aheltje. Vielleicht würde ihm die Hexe den Schleier der verhüllten Zukunft ein wenig lüften, ihm sagen, welche Ehren und Freuden seiner warteten.
Sonderbar – er hatte monatelang mit allen Kräften, allen Mitteln danach gestrebt, die Schmuggler zu entlarven, und jetzt, da es geschehen war, schlug ihm das Herz bis in die Kehle hinauf. Er glaubte immer, es stehe jemand hinter ihm – er fühlte sich mehr als nur unbehaglich.
Und dann öffneten sich seine Augen vor Erstaunen so weit als möglich. Über Nacht war die Hütte der Alten wie vom Boden verschwunden; ein paar Trümmer lagen umher, Splitter und Fetzen, das war alles.
»Aheltje!« rief er stillstehend, »Aheltje, wo bist du?«
Niemand antwortete ihm, aber er hörte aus den Dünen eine schwache zitternde Stimme, eine bekannte Melodie, deren Klänge ihn vom Kopf bis zu den Füßen eisig durchschauerten.
»Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.«
Leise schlich er näher. Im tiefen Tal einer Düne, unter dem Schatten dichter Erlen saß Aheltje und sang. Das graue Haar hing wirr um den Kopf, eine breite Wunde klaffte an der Stinte, die Handgelenke zeigten schwarze Flecke. Im Schoß hielt die arme Alte ihren Liebling, den grauen Murr, aber tot – ein schrecklicher Anblick, da ihm der Kopf fehlte.
Die bebenden Lippen sangen das Lutherlied voll gläubiger Zuversicht, die Hände, blutend und verkrümmt, streichelten das graue Fell des toten Tieres. Allein in dem großartigen Schweigen der Dünenwelt, ganz allein mit ihrem bitteren Weh, predigte sich die Alte von jener Gerechtigkeit, die nie erlahmt, jener Vatergüte, auf die kein Lebender vergeblich baut. Sie sang ihr wildschlagendes Herz zur Ruhe – jeder Ton trug eisiges Erschrecken in die Seele des Verräters.
Er glitt hinab in das Tal und stand dicht vor ihr. »Aheltje!« sagte er mit unsicherer, heiserer Stimme.
Langsam hob die Alte den Kopf, ein blasses entstelltes Gesicht sah ihn an, die blutende Hand deutete auf den Ausgang der Schlucht.
»Hinaus!« sagte sie ruhig. »Die Welt ist groß, auch ohne diese Düne; laß sie mir, Kain, geh fort, ehe ich dich verfluche.«
Er zuckte die Achseln, vergeblich bemüht, sich den Sinn ihrer Rede zu leugnen. »Was habe ich dir getan, Aheltje? Wo – wo ist dein Haus?«
Sie wiegte den Kopf gleich einer Irrsinnigen. »Frage den Wind, Verräter, frage die Franzosen, deine Freunde. Sie sind zu mir gekommen und verlangten das Rezept des Saftes, der Zauberkräfte gibt, sie haben meine Hütte in Trümmer geschlagen und mich mißhandelt. Sieh da das Blut, die Wunden – nimm‘s auf dein Gewissen, Peter Witt! und mög‘s dich brennen, bis du Buße tust vor Gott.«
Sie erhob sich mühsam von ihrem Sitz, sie trat, das tote Tier hoch emporhebend, dem erschreckten Mann näher. »Was gilt mir mein verlorenes Haus, du Unseliger, was gelten mir die Säbelhiebe der Franzosen, wenn ich diesen toten Körper ansehe? Weißt du, was mir die Katze war, Peter Witt? – Was glücklichen Menschen ihre Kinder und Geschwister, ihre Verwandten und geliebten Wesen sind! Das letzte lebende Geschöpf, an dem meine Seele hing, das letzte, welches mich liebte! – Du hast mir‘s geraubt!«
Er ging immer Schritt um Schritt rückwärts, die Hände streckte er vor und die Blicke hielt er fest auf das Gesicht der Alten geheftet.
»Sei doch nicht gleich so böse, Aheltje, ich habe dir die Franzosen nicht auf den Hals geschickt, und was deine Katze betrifft, lieber Gott, so schenke ich dir dafür zehn andere!«
Die alte Frau schluchzte. »Zehn andere!« wiederholte sie. »Ach, Peter Witt, du reicher müßiger Mann, du, der du über viele Tausende gebietest – meinen armen Murr kannst du mir nicht wiedergeben. Ich hab‘ ihn neugeboren am Strande gefunden und hab‘ ihn aufgezogen wie ein Kind – womit wolltest du mir seine Liebe ersetzen? Geh, geh, Unglücksmensch, und lasse dich nie wieder hier an dieser Stelle sehen, bis ich tot bin, erlöst!«
Sie weinte bitterlich, ihr graues Haar flatterte im Wind, ihre Hände bebten. »Fort!« rief sie. »Fort! Was willst du von mir, Peter Witt?«
»Aheltje«, schmeichelte er, »liebe beste Aheltje, du sollst mir die Karten legen! Wenn gute Nachrichten darin stehen, lasse ich dir auch dein Haus wieder aufbauen!«
Die »Hexe« schauderte. »Auch meine Karten«, murmelte sie, »auch meine Karten, nun erst fällt mir‘s ein. Die Kinder hatten damit gespielt, meine Knaben, ich liebte die alten Blätter so innig! – Alles dahin, alles zerstört, es sollten ja Zauberkräfte darin verborgen sein!«
Peter Witt erschrak. »Du hast keine Karten mehr, Aheltje? – Ich will andere holen, ich komme rasch zurück.«
Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich mag nichts mit dir zu schaffen haben, Kain, nichts, nichts. Geh, laß mich in Ruhe mein armes Tier verscharren.«
Sie begann, ohne die Gegenwart des Verräters weiter zu beachten, den losen Sand mit ihren Händen aufzugraben. Ob er bat und flehte, ob er Geld anbot, oder Drohungen hervorstieß, sie schenkte ihm keinen Blick, bis er endlich davonging, böse und unruhig, das Herz voll schlimmer Ahnungen.
Nicht nach Hause – ihm graute davor.
Und so schlich er umher, ziellos, zwecklos, bald bis zur Reede, dann an den Herrenstrand, hinauf zum schwarzen Kap. Zur Ewigkeit dehnte sich der Tag; erst gegen Abend kam das ausgeschickte Kanonenboot zurück und brachte den Präfekten nach Norderney – jetzt wurde Peter Witt ruhiger.
Ob wohl ein neuer Orden für ihn schon in Bereitschaft lag?
Sicherlich erhielt er doch noch heute abend eine Einladung zu Seiner Exzellenz, Herrn Jeannesson – ja, und da mußte er schleunigst an einen andern Anzug denken.
Schnelle Schritte brachten ihn nach Hause, wo sein Sohn vor der Tür saß und einen Schwarm gleichaltriger Knaben um sich versammelt hatte. Sobald er kam, traten alle zur Seite, stumm, ohne Gruß, ohne ein einziges Zeichen des Hasses oder der Teilnahme, nur sein eigener Knabe griff nachlässig an die Mütze.
»Jetzt sitzen die Schmuggler in der Falle«, sagte er hämisch. »Onnen Visser liegt sterbenskrank – sie haben schon aus Norden für ihn einen Doktor verschrieben.«
Sein Vater erschrak. »Ich verbiete dir, mit irgendeinem Menschen Streit anzufangen, hörst du, Adam! Komm her und bürste meine Stiefel.«
Der Junge reckte sich. »Das kann Frau Olters tun«, brummte er. »Wohin willst du denn schon