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Auf zwei Planeten. Kurd Laßwitz
Читать онлайн.Название Auf zwei Planeten
Год выпуска 0
isbn
Автор произведения Kurd Laßwitz
Жанр Зарубежная классика
Издательство Public Domain
»Wieso?« fragte Saltner.
»Der Pol ist ein Unstetigkeitspunkt. Prinzipien sind Grundsätze, die unter der Voraussetzung gelten, daß die Bedingungen bestehen, für welche sie aufgestellt sind, vor allem die Stetigkeit der Raum- und Zeitbestimmungen. Am Pol sind alle Bedingungen aufgehoben. Hier gibt es keine Himmelsrichtungen mehr, jede Richtung kann als Nord, Süd, Ost oder West bezeichnet werden. Hier gibt es auch keine Tageszeit; alle Zeiten, Nacht, Morgen, Mittag und Abend, sind gleichzeitig vorhanden. Hier gelten also auch alle Grundsätze zusammen oder gar keine. Es ist der vollständige Indifferenzpunkt aller Bestimmungen erreicht, das Ideal der Parteilosigkeit.«
»Bravo«, rief Saltner, der inzwischen die Trinkbecher von Aluminium mit dem perlenden Wein gefüllt hatte. »Es lebe Frau Isma Torm, unsere gnädige Spenderin!«
Saltner und Torm erhoben ihre Becher. Grunthe kniff die Lippen zusammen und hielt, geradeaus starrend, sein Trinkgefäß unbeweglich vor sich hin, indem er es passiv geschehen ließ, daß die andern mit ihren Bechern daran stießen. Nun rief Torm:
»Es lebe der Nordpol!«
Da stieß auch Grunthe seinen Becher lebhaft mit den andern zusammen und setzte hinzu:
»Es lebe die Menschheit!«
Sie tranken und Saltner rief:
»Grunthes Toast ist so allgemein, daß ein Becher nicht reichen kann.« Und er schenkte noch einmal ein.
Inzwischen war der Ballon langsam dem Binnenmeer entgegengetrieben, das sich nun immer deutlicher den staunenden Blicken der Reisenden enthüllte. Vom Fuß der steil abfallenden Felsenwand des Gebirges ab senkte sich das Gelände allmählich, wohl noch eine Strecke von einigen zwanzig Kilometern weit, nach dem Ufer hin. Aber die Landschaft zeigte jetzt ein vollständig anderes Gepräge. Die wilde Gletschernatur war verschwunden, grüne Matten zogen sich, nur noch mit einzelnen Gesteinstrümmern hier und da bedeckt, in sanfter Senkung dem Wasser zu. Man glaubte in ein herrliches Alpental zu schauen, in dessen Mitte ein blauer Bergsee sich ausbreitete. An dem jenseitigen, entfernten Ufer, das freilich in undeutlichem Dämmer verschwamm, schien dagegen wieder ein Steilabfall von Fels und Eis zu herrschen, doch zog sich über den Bergen dort eine Wolkenwand empor. Das Auffallendste in der ganzen Szenerie aber bot der Anblick einer der Inseln, die zahlreich und in unregelmäßiger Gestaltung in dem Bassin lagen, bis an dessen Ufer der Ballon jetzt herangeschwebt war. Sie war kleiner als die Mehrzahl der übrigen Inseln. Aber ihre Formen waren so vollkommen regelmäßig, daß es zweifelhaft schien, ob man eine Gestaltung der Natur vor sich habe. Die mit Flechten bekleideten Felstrümmer, welche die andern Inseln bedeckten, fehlten hier vollständig.
Die Forscher mochten sich etwa noch zwölf Kilometer von der rätselhaften Insel entfernt befinden, die sie mit ihren Ferngläsern musterten, als Torm sich an Grunthe wandte.
»Sagen Sie uns, bitte, Ihre Meinung. Können wir eigentlich bestimmen, wo wir uns befinden? Ich muß gestehen, daß ich beim Überschreiten des Gebirges und dem raschen Höhenwechsel nicht mehr imstande war, die einzelnen Landmarken zu verfolgen.«
»Ich habe«, erwiderte Grunthe, »einige Peilungen gemacht, aber zu einer sicheren Bestimmung reichen sie nicht mehr aus. Auch die Methode aus der Messung der Sonnenhöhe ist jetzt nicht anwendbar, da wir nicht mehr imstande sind, die Tageszeit auch nur mit einiger Sicherheit anzugeben. Wir haben die Himmelsrichtung vollständig verloren. Der Kompaß ist ja hier im Norden sehr unzuverlässig. Auf alle Fälle sind wir ganz nahe am Pol, wo alle Meridiane so nah zusammenlaufen, daß eine Abweichung von einem Kilometer nach rechts oder links einen Zeitunterschied von einer Stunde oder mehr ausmacht. Wenn unser Ballon aus der Nord-Süd-Richtung vielleicht seit der Überschreitung des Gebirges um fünf oder sechs Kilometer abgewichen ist, was sehr leicht sein kann, so haben wir jetzt nicht, wie wir vermuten, drei Uhr morgens am 19. August, sondern vielleicht schon Mittag, oder, wenn wir nach Westen abgewichen sind, so sind wir sogar in den gestrigen Tag zurückgeraten und haben vielleicht erst den 18. August abends.«
»Das wäre der Teufel«, rief Saltner. »Das kommt von diesem ewigen Sonnenschein am Pol! Nun kann ich an meinem Abreißkalender das Blatt von gestern wieder ankleben.«
»Schon möglich!« lächelte Grunthe. »Nehmen Sie an, Sie machen einen Spaziergang um den Nordpol in der Entfernung von hundert Metern vom Pol, so sind Sie in fünf Minuten bequem um den Pol herumgegangen und haben sämtliche 360 Meridiane überschritten; Sie haben also in fünf Minuten alle Tageszeiten abgelaufen. Gehen Sie nach Westen herum, und wollen Sie die richtige Zeit jedes Meridians haben, so müßten Sie auf jedem Meridian Ihre Uhr um 4 Minuten zurückstellen, so daß Sie nach besagten fünf Minuten um einen vollen Tag zurück sind, und wenn Sie in dieser Art eine Stunde lang um den Pol herumgegangen sind, so muß Ihre Uhr, wenn sie einen Datumzeiger besitzt, den 7. August anzeigen.«
»Da muß ich mir halt einen Anklebekalender anschaffen«, meinte Saltner.
»Ja, aber wenn Sie nach Osten herumgehen, kommen Sie um ebensoviel in der Zeit voran, Sie hätten dann nach zwölfmaligem Spaziergang um den Pol den 31. August erreicht, wenn Sie bei jedem Umgehen des Pols ein Blatt in ihrem Kalender abrissen. In beiden Fällen würden sie sich indessen tatsächlich noch am 19. August befinden. Sie müßten also, wie die Seefahrer beim Überschreiten des 180. Meridians, ihren Datumzeiger entsprechend regulieren.«
»Und wenn wir nun gerade über den Pol wegfliegen?«
»Dann springen wir in einem Moment um zwölf Stunden in der Zeit. Der Pol ist eben ein Unstetigkeitspunkt.«
»Sackerment, da weiß man ja gar nicht, wo man ist.«
»Ja«, sagte Torm, »das ist eben das Fatale. Wir haben uns von Anfang an darauf verlassen müssen, daß wir unsere Lage aus dem zurückgelegten Wege bestimmen. Läßt sich denn gar nichts tun?«
»Nur wenn wir landen und unsere Instrumente so fest aufstellen, daß wir einige Sterne anvisieren können.«
»Daran können wir auf keinen Fall eher denken, bis wir den See überflogen haben und das jenseitige Gebirge überschauen. Hier zwischen den Inseln dürfen wir uns nicht hinabwagen. Wir sind also wirklich nicht besser daran als unsere Vorgänger, und der wahre Pol bleibt wieder unbestimmt.«
»Zu verflixt«, brummte Saltner, »da sind wir vielleicht gerade am Nordpol und wissen es nicht.«
2 - Das Geheimnis des Pols
Langsam zog der Ballon weiter, doch bewegte er sich nicht direkt auf die auffallende kleine Insel zu, sondern sie blieb rechts von seiner Fahrtrichtung liegen.
Während Grunthe die Landmarken aufnahm und Torm die Instrumente ablas, suchte Saltner, dem die photographische Festhaltung des Terrains oblag, die Gegend mit seinem vorzüglichen Abbéschen Relieffernrohr ab. Dasselbe gab eine sechzehnfache Vergrößerung und ließ, da es die Augendistanz verzehnfachte, die Gegenstände in stereoskopischer Körperlichkeit erscheinen. Sie hatten sich jetzt der Insel soweit genähert, daß es möglich gewesen wäre, Menschen, falls sich solche dort hätten befinden können, mit Hilfe des Fernrohrs wahrzunehmen.
Saltner schüttelte den Kopf, sah wieder durch das Fernrohr, setzte es ab und schüttelte wieder den Kopf.
»Meine Herren«, sagte er jetzt, »entweder ist mir der Champagner in den Kopf gestiegen –«
»Die zwei Glas, Ihnen?« fragte Torm lächelnd.
»Ich glaub es auch nicht, also – oder –«
»Oder? Was sehen Sie denn?«
»Es sind schon andere vor uns hier gewesen.«
»Unmöglich!« riefen Torm und Grunthe wie aus einem Munde.
»Die bisherigen Berichte wissen nichts von einer derartigen Insel – unsere Vorgänger sind offenbar gar nicht über das Gebirge gekommen«, fügte Torm hinzu.