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muß noch eine Möglichkeit in Betracht gezogen werden, Immer wieder kommt es vor, daß Menschen in einen plötzlichen Traumzustand geraten, der sich in einen Wandertrieb umsetzt und sie veranlaßt, ohne Ziel und Zweck ihr Heim zu verlassen und ins Unbekannte zu pilgern. Gewöhnlich ist ein solcher Zustand, der jedem Pathologen wohlbekannt ist, mit dem zeitweisen oder dauernden Verlust des Gedächtnisses verbunden, so daß die Erkrankten ihren Namen, ihre Adresse, ihre ganze Vergangenheit nicht mehr kennen. Daß solche Unglückliche wochen-, monate-, ja jahrelang nicht zu finden sind, ist begreiflich. Sollte es sich so auch mit Gertie Sehring verhalten? Diese Möglichkeit ist auch ins Auge zu fassen, und es wird Sache der Polizei sein, zu ergründen, ob das Mädchen an Nervenstörungen schon gelitten hat oder sich in ihrer Familie Kranke dieser Art befunden haben. Gegen die Annahme, daß sich Gertie Sehring in einem gewissermaßen somnambulen Zustande entfernt hat, spricht indessen die Tatsache, daß solche Fälle bisher niemals unter Kindern, sondern ausschließlich unter Erwachsenen beobachtet wurden. Und auch das Verschwinden der neunjährigen Ruth Clemens und der elfjährigen Marie Peters beweisen fast zur Gewißheit, daß es sich hier nur um ein grauenhaftes Verbrechen handelt, um die Tat einer Bestie in Menschengestalt.«

      Bob Holgerman las zu Hause beim Frühstück die »Morgenpost«, und eine ihm selbst unerklärliche Ruhe kam nach den Erschütterungen der vergangenen Nacht über ihn. Es gibt Physiologen, die behaupten, daß der Mensch nicht langsam und allmählich wachse und reife, sondern ruckartig, abschnittsweise. Wenn diese Theorie zutrifft, so machte an diesem Morgen nach dem Lesen der »Morgenpost« das innerliche Wachstum Bobs einen gewaltigen Sprung nach vorwärts. Er sah einen Weg und ein Ziel vor sich und wußte nun ganz genau, daß Gertie nur von einem gerettet werden konnte, der sein ganzes Dasein dieser Aufgabe widmen würde, und nur er dieser eine sein könnte. Und als nun ein Abgesandter des Detektivinspektors Crispin, der Kriminalbeamte Lorensen, sich anmeldete, um neue Verhöre und Nachforschungen zu veranstalten, da sah der im Dienst ergraute Mann sich einem kleinen Knaben gegenüber, der mit verblüffender Sicherheit alle Fragen beantwortete und seinerseits mit der logischen Verstandesschärfe eines Mannes Fragen stellte. Und der Beamte lachte weder, noch wunderte er sich, als ihm Bob zum Schlusse sagte:

      »Herr Lorensen, ich bin überzeugt davon, daß die Polizei alles tun wird, was ihr möglich ist. Aber auch ich werde das tun, was mir möglich erscheint.«

      Bob begab sich, als der Detektiv gegangen war, zu Frau Sehring hinüber, bei der er seine Mutter traf. Frau Sehring war krank, sehr krank, sie hatte die ganze Nacht an Herzkrämpfen gelitten, und Frau Holgerman ließ kurz entschlossen eine Pflegerin kommen, die bei der verzweifelten Mutter zu wachen und alle häuslichen Arbeiten zu besorgen hatte.

      Der Knabe war von dem Anblick der bleichen Frau, deren blutleere Lippen nervös zuckten, tief ergriffen. Er weinte aber nicht mit ihr, wie er es noch gestern getan hatte, sondern seine eiserne Ruhe verließ ihn nicht; er hielt sich auch nicht lange an dem Krankenbette auf, ging vielmehr bald wieder.

      Im Park herrschte unter den Kindern, die ja alle Gertie wenigstens von Angesicht kannten, die größte Aufregung, ebenso unter den begleitenden Müttern oder Erzieherinnen und Bob wurde umringt und weidlich ausgefragt. Aber er entzog sich rasch allen Kundgebungen und suchte den Invaliden auf, der ihm voll ehrlichen Mitgefühles die schwielige Hand entgegenstreckte und ihn mit »junger Herr« ansprach. Bob ging neben dem Alten schweigend einher, bis sie dem Kinderschwarm entronnen waren, dann sagte er ernst:

      »Herr Wächter, ich werde nun selbst nach Gertie suchen. Und ich bitte Sie, helfen Sie mir dabei.«

      »Gott soll mich strafen, junger Herr, wenn ich es nicht gerne tun will; nur sagen Sie mir, was ich alter Mann dabei machen kann?«

      »Nun, das ist gar nicht so wenig. Bitte, beobachten Sie scharf alle hübschen, kleinen Mädchen, mehr aber noch die Leute, die diese Mädchen beobachten. Sehen Sie, der Mann, der Gertie geraubt hat, muß sich doch vorher genau nach allem erkundigt haben. Sonst hätte er das mit dem Anruf des Professor Brummel nicht ausführen können. Also hat er Gertie sicher schon oft vorher gesehen und sie scharf beobachtet. Vielleicht, daß er es noch auf andere Mädchen abgesehen hat. Es muß uns also jeder verdächtig erscheinen, der kleine, hübsche Mädchen mustert und beobachtet.«

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