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Justizrat Dr. v. Gordon: Wenn der Angeklagte schuldig wäre, so würde keine Strafe hoch genug gegen ihn sein, denn er hätte, indem er den Täter der Strafe zu entziehen suchte, unsägliches Unglück, das über viele andere gekommen, verschuldet. Der Angeklagte ist aber nicht schuldig; ich erwarte daher zuversichtlich seine Freisprechung. Das Eigentümliche an diesem Verfahren ist, daß man keinen Anhalt für den Täter hat. Nach Einsicht der Akten muß jeder ruhig und objektiv Urteilende zugeben, daß sich nach keiner Seite hin Anhaltspunkte für einen Verdacht ergeben haben. Nach dem Gutachten des Dr. Puppe erscheint der Erstickungstod sehr wahrscheinlich. Diese Beurteilung der Todesursache erscheint für die weitere Verfolgung von höhster Bedeutung. Sollten aber, beim Gericht Zweifel über die sich gegenüberstehenden Gutachten bestehen, so würde es sich empfehlen, ein Obergutachten des Medizinalkollegiums einzuholen. Wäre der Tod durch Verblutung eingetreten, so würde es sich vielleicht um einen israelitischen systematischen Mord handeln, den mehrere Personen ausgeübt haben müßten. Anders liegt es beim Erstickungstod, dann wäre mit allen Möglichkeiten zu rechnen. Es wäre möglich, daß Winter in irgendeiner Situation überrascht wäre, oder daß er aus Fahrlässigkeit bei irgendeinem Scherz oder einer Liebelei unter dem Kissen erstickt sei. Es muß entschieden bestritten werden, daß dem Staatsanwalt der Beweis gelungen sei, daß überhaupt eine strafbare Handlung den Tod Winters verursacht hat. Auch der Versuch, ein Motiv für die Handlungsweise des Angeklagten nachzuweisen, ist der Anklage mißlungen. Zur Zeit, als der Kopf gefunden wurde, waren schon Tausende Mark Belohnung ausgeboten. Also das Motiv des Eigennutzes schwebt ganz in der Luft. Es liegt hier ein Maximum von Unwahrscheinlichkeiten vor, die gegen jeden anderen ebenso belastend angewendet werden könnten. Aus vollster Überzeugung beantrage ich daher die Freisprechung des Angeklagten. Die Freisprechung fällt wie ein reifer Apfel vom Baum. Ich möchte nur wünschen und hoffen, daß die Bevölkerung auf Grund des heutigen Beweisergebnisses den Mann, der wieder in ihre Mitte tritt, nicht als Mörder oder Mordgesellen betrachtet.

      Nach nur kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende folgendes Urteil: Das Gericht hat sich dem Gutachten des Sanitätsrats Müller angeschlossen, welches im wesentlichen mit dem Gutachten der Berliner Gerichtsärzte Mittenzweig und Störmer übereinstimmt. Diese drei Herren standen unter dem frischen Eindruck der Sektion, ohne daß das Gericht damit den wissenschaftlichen Einwendungen des heute gehörten anderen Herrn Sachverständigen zu nahe treten will. Auf Grund dieser drei Gutachten hat das Gericht zu keiner festen Annahme über die Todesursache kommen können, denn die Herren sprechen auch nur von Wahrscheinlichkeiten. Bezüglich des Angeklagten ist als erwiesen anzusehen, was der Zeuge Friedler ausgesagt hat, der Israelski mit einem runden Gegenstand im Sack vorbeigehen gesehen hat. Friedler hat ihn aber nicht weiter gehen sehen, als bis zur Ecke. Es erscheint nicht nachgewiesen, wohin er weiter gegangen ist. Die Aussagen der anderen Zeugen sind zu unsicher gewesen. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, daß der Kopf nicht längere Zeit im Graben gelegen haben kann, es fehlt eben jeder Anhalt dafür, was der Angeklagte im Sack gehabt hat. Das Gericht hat ferner nicht als erwiesen angesehen, daß ein Schächtschnitt vorliegt. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt: es ist nicht erwiesen, daß der Angeklagte Israelski dem nicht ermittelten Täter Beihilfe geleistet hat. Er war daher freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen.

      Anfang Oktober 1900 hatte sich der siebzehnjährige Präparand Richard Speisiger vor der Konitzer Strafkammer wegen wissentlichen Meineids zu verantworten. Speisiger war ein Freund des ermordeten Winter. Er war beschuldigt, bezüglich des Verkehrs des Winter wissentlich eine Unwahrheit beschworen zu haben. In diesem Prozeß wurde von mehreren als Zeugen vernommenen Gymnasiasten bekundet: Winter habe ihnen viel über seinen unzüchtigen Verkehr erzählt und ihnen noch kurz vor seinem Tode mitgeteilt, daß er mit drei jungen Mädchen fortdauernd intimen Verkehr unterhalte. Er habe aber noch mit anderen Frauen intimen Verkehr, so daß er bisweilen schachmatt sei.

      Zwecks weiterer Feststellung des von dem Ermordeten unterhaltenen unzüchtigen Verkehrs wurde am zweiten Verhandlungstage den ganzen Vormittag wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Auch die Vertreter der Presse mußten den Saal verlassen. In dieser unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefundenen Verhandlung wurden mehrere unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehende Dirnen vernommen.

      In der öffentlichen Verhandlung bekundete eine Reihe Zeugen: der Fleischergeselle Moritz Lewy, genannt der »Pincenez-Lewy«, weil er sogar das Vieh mit dem Pincenez auf der Nase durch die Stadt trieb, sei augenscheinlich mit dem ermordeten Winter befreundet gewesen, denn er sei mehrfach mit Winter auf der Straße plaudernd gesehen worden. Moritz Lewy bekundete, als ihm der Vorsitzende die Zeugenaussagen vorhielt: Er kenne viele Gymnasiasten, mit denen er sich unterhalte, ohne ihren Namen zu wissen. Dasselbe werde wohl auch bezüglich des Winter der Fall sein. Es sei sehr leicht möglich, daß er wiederholt mit Winter gesprochen und auch mit ihm zusammengegangen sei, ohne seinen Namen zu kennen. Er erinnere sich wenigstens nicht, Winter gekannt zu haben.

      Vors.: Sie haben bei dem Untersuchungsrichter mit voller Entschiedenheit in Abrede gestellt, daß Sie Winter gekannt haben.

      Der Zeuge schwieg. Der Gerichtshof beschloß die Aussage des Zeugen Moritz Lewy protokollieren zu lassen. Lewy wurde darauf vereidigt und auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wegen Verdachts des wissentlichen Meineids im Gerichtssaale verhaftet.

      Im Plädoyer bemerkte der Erste Staatsanwalt: Die nichtöffentliche Verhandlung hat ergeben, daß der ermordete Winter, obwohl noch Gymnasiast und erst 18 1/2 Jahre alt, mit den verworfensten Dirnen intimen Verkehr unterhalten hat. Der Erste Staatsanwalt erachtete im weiteren die Schuld des Angeklagten Speisiger in drei Fällen für erwiesen und beantragte 2 Jahre 6 Monate Gefängnis. Der Gerichtshof sprach jedoch den Angeklagten wegen mangelnder Beweise frei.

      Sehr bald darauf folgten mehrere Prozesse wegen Landfriedensbruchs sowie wegen Auflaufs und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Alle diese Straftaten waren aus Anlaß des Winterschen Mordes in Konitz und verschiedenen Nachbarstädten unternommen worden.

      Am 25. Oktober begann vor dem Schwurgericht des Konitzer Landgerichts ein sehr umfangreicher Prozeß wegen wissentlichen Meineids gegen 1. den Gasanstaltsarbeiter Bernhard Maßloff, 2. dessen Ehefrau, geborene Roß, 3. Gesindevermieterin Anna Roß, 4. Frau Auguste Berg geborene Roß. Maßloff hatte vor dem Untersuchungsrichter beschworen: Er sei am Sonntag, den 11. März 1900, abends gegen 10 Uhr, die Danziger Straße entlang gegangen, um sich nach seiner außerhalb von Konitz belegenen Behausung zu begeben. Als er aus seiner Schnupftabakflasche eine Prise nehmen wollte, sei ihm der Pfropfen von der Schnupftabakflasche zur Erde gefallen. Er habe sich gebückt, um den Pfropfen aufzuheben. Bei dieser Gelegenheit sei sein Blick in ein Kellerfenster gefallen. Er habe gesehen, daß mehrere Männer dort in einer Weise wie Schlächter hantierten. Gleichzeitig habe er Winseln und Stöhnen, sowie ein »Gebabber« und Gurgeltöne vernommen. Obwohl er nicht wußte, wer in diesem Hause wohnte, sei er um die Ecke in die Rähmestraße gegangen. Dort habe er sich auf die Lauer gelegt. Nach etwa dreiviertel Stunden sei ein alter Jude aus dem Keller gekommen. Bald darauf seien noch zwei junge Juden, die ein schweres, langes Paket trugen, aus dem Keller gestiegen. Der alte Jude und die zwei jungen Juden haben das schwere Paket nach dem Mönchsee getragen und dort hineingeworfen. Die Schwiegermutter des Maßloff, Frau Roß, hatte vor dem Untersuchungsrichter bekundet: Ein Knecht habe dieselben Beobachtungen wie ihr Schwiegersohn Maßloff gemacht. Frau Berg und Frau Roß hatten außerdem beim Untersuchungsrichter bekundet: Sie hätten am Sonntag vor dem Morde verschiedene Beobachtungen in der Lewyschen Wohnung gemacht. Frau Lewy und ihre Schwester, die sogenannte »Lappen-Lewy« seien sehr aufgeregt gewesen. Diese haben auch Gespräche geführt, die sich auf die Ermordung des Gymnasiasten Winter bezogen. Außerdem haben sie in der Lewyschen Wohnung die Wintersche Uhrkette und ein dem Ermordeten gehörendes weißes Taschentuch, gezeichnet E.W., liegen sehen. Frau Maßloff hatte verschiedene Angaben ihres Mannes eidlich bestätigt. Da alle diese Angaben den Stempel der Unwahrheit an der Stirn trugen, wurde gegen die vier Personen Anklage wegen wissentlichen Meineids erhoben. Den Vorsitz in dieser Verhandlung, der auch ein Vertreter des Justizministeriums und zum Teil die antisemitischen Reichstagsabgeordneten Liebermann von Sonnenberg und Pastor a.D. Krösell beiwohnten, führte Landgerichtsdirektor Schwedowitz. Die Anklage vertraten der Oberstaatsanwalt am Oberlandesgericht zu Marienwerder Dr. Lantz und der Erste Staatsanwalt Settegast. Die Verteidigung

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