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irritiert: denn wenn kriminelles Verhalten mit der individuellen Veranlagung zusammenhinge, müsste dieser Zusammenhang in unterschiedlichen sozialen Umfeldern und Strukturen stabil bleiben.

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       Wir wollen das Theorienspektrum in seiner gesamten thematischen Bandbreite erörtern. Freilich ist angesichts der schier unendlichen Nuancierungsmöglichkeiten keine vollständige, sondern eine typisierende Darstellung angezeigt.10 Die Darstellung folgt einer systematischen Einteilung und nicht stets chronologisch der historischen Entstehung der erörterten Theorien.

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       Drei Typen kriminologischer Theorien können unterschieden werden: Theorien, welche individuelle Merkmale benennen, die die Wahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens erhöhen. Ferner Theorien, welche Strukturmerkmale sozialer Einheiten bezeichnen, die die Häufigkeit und Verteilung des Kriminalitätsvorkommens beeinflussen. Schließlich Theorien, welche sich mit der Kontrolle der Kriminalität befassen.11 Individuenbezogene Theorien verwenden biologische, psychologische und psychiatrische Erklärungen. Diese Theorien gehen davon aus, dass die Bereitschaft zur Verübung kriminellen Verhaltens bei manchen Menschen größer als bei anderen ist, unabhängig von der sozialen Situation, in der sich diese befinden. Auf soziale Einheiten bezogene Theorien verwenden soziologische und sozialpsychologische Erklärungen. Sie nehmen [87] an, dass gewisse ungünstige Beschaffenheiten des sozialen Umfelds mit einem erhöhten Kriminalitätsvorkommen und einer bestimmten Kriminalitätsverteilung zusammenhängen, unabhängig von den Merkmalen der Individuen, die sich in diesem Umfeld befinden. Neben diesen beiden Gruppen von Kriminalitätstheorien, die also die Erklärung kriminellen Verhaltens beabsichtigen, finden sich Kriminalisierungstheorien, die auf die Kriminalitätskontrolle bezogen sind und die förmlichen Reaktionen auf Kriminalität untersuchen.

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       In den folgenden Kapiteln werden zunächst individuenbezogene Theorien erläutert, welche um die Aufklärung der individuellen Ursachen des Straffälligwerdens (also ätiologisch) bemüht sind und das deterministische Verhaltenskonzept sowie das Erklärungsmodell (→ § 2 Rn 6 ff.) zugrunde legen. Wir werden diesen Theorietyp anhand von Entwicklungen der Biokriminologie (→ § 7) sowie psychologischer und psychiatrischer Persönlichkeitskonzepte (→ § 8) darstellen.

      28 Bei den Theorien, die auf soziale Einheiten (z. B. das soziale Umfeld, Subkulturen, die Gesellschaft insgesamt) bezogen sind, wird Devianz mit den Strukturen und Beschaffenheit dieser Einheiten (z. B. Normen, Kriminalitätsaufkommen, Sozialstruktur) in Zusammenhang gebracht. Diese Theorien nehmen also an, dass die Bedingungen sozialer Einheiten verhaltensbestimmend sind. Solche sozialen Einheiten lassen sich auf der Mikroebene des Umfelds der Täter:innen, der Mesoebene sozialer Teilsysteme und der Makroebene gesamtgesellschaftlicher Strukturen lokalisieren. Auch diese Theorien sind (im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit) deterministisch, erklärend und ätiologisch. Wir werden diesen Theorietyp an Beispielen sozialstruktureller Konzepte (→ § 9) und der Sozialisation im sozialen Nahbereich (→ § 10) studieren. Die anschließend zu erörternden Kontrolltheorien (→ § 11) beruhen im Kern auf der Annahme von kriminalitätsbegünstigenden Kontrolldefiziten und lassen sich ebenfalls dem Typ der Kriminalitätserklärung aus Abnormitäten sozialer Einheiten zuordnen. Bei den aktuellen spätmodernen Theorien (→ § 12) ist eine eindeutige Typisierung nicht möglich. Während die ökonomische Kriminalitätstheorie eine von sozialen Einflüssen freie, also indeterministische Verhaltenswahl behauptet (→ § 12 Rn 12 ff.), geht die allgemeine Theorie von Gottfredson und Hirschi (→ § 12 Rn 43 ff.) von einer frühkindlichen, lebenslang erhalten bleibenden Verhaltensprägung durch Bezugspersonen aus.

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       Als auf die Kriminalitätskontrolle bezogene Theorie ist der Labeling Approach (→ § 13 Rn 7 ff.) bekannt. Dieser befasst sich mit den Bedingungen der Vergabe der Eigenschaft „kriminell“ durch den Gesetzgeber und die Instanzen der [88] Strafrechtsanwendung. Um die Verbindung des Labeling Approach mit dem Verstehensmodell (→ § 2 Rn 11 ff.) deutlich zu machen und die fortwährende Bedeutung dieses Modells auch nach dem inzwischen eingetretenen Bedeutungsverlust des Labeling Approach zu begründen, wird Kriminalität in den Zusammenhang mit sozialer Interaktion gerückt und das interpretative Paradigma (→ § 13 Rn 1 ff.) als Leitidee präsentiert. Schließlich wird die soziale Konstruktion der Geschlechterrollen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ in der Genderforschung als allgemeiner Deutungsrahmen für das Verständnis der Kriminalitätskontrolle und als Anwendungsbeispiel des interpretativen Paradigmas herausgearbeitet (→ § 9 Rn 36 ff.).

      § 7 Entwicklungen der Biokriminologie

      Lektüreempfehlung: Laue, Christian (2010): Evolution, Kultur und Kriminalität. Berlin/ Heidelberg, 17-58; Wilson, Edward O. (1975): Sociobiology: The New Synthesis. Cambridge.

      Nützliche Webseiten: http://www.geneticsandsociety.org/article.php?id=4713.

      1

       Biologische Erklärungen besitzen gemeinsame Funktionen: Sie verbinden biologische mit sozialer Abweichung, markieren schwer überwindbare Grenzen zwischen Normalität und sozialer Abweichung, stehen in einem besonderen Näheverhältnis zur staatlichen Strafverfolgung, reproduzieren und legitimieren deren Praxis der Exklusion von Schwer- und Karrierekriminellen und rechtfertigen die Selektivität der Strafverfolgung durch Abgrenzung der „Unverbesserlichen“ von Gelegenheitstäter:innen.12

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       Heute ist nur ein Teil der Erklärungen anlagebezogen; andere Erklärungen stützen sich auf biochemische Einflüsse der Umwelt, die durch die Nahrung, die Luft, durch Unfälle oder Krankheiten die Psyche in kriminogener Weise verändern können sollen. Die uns heute skurril anmutende Erkennbarkeit der Verbrecherpersönlichkeit an leicht erkennbaren äußerlichen Merkmalen wird nicht mehr vertreten. Vor allem nicht evidente, nur noch der Fachperson durch aufwendige wissenschaftliche Prozeduren erkennbare, zumeist genetische, Merkmale werden in einen Zusammenhang mit Kriminalität gebracht.

      „Keiner muss ein Bösewicht aus Anlage werden, aber alle können‘s. Die Übeltat kann nicht stehenden Fußes sich dem Schädel einprägen – sowenig so und so ein Schädel diese oder jene Übeltat begehen muss.“13

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