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deutlich andere Schwerpunkte als Kroeschell zu setzen, Quellen umfassender einzubinden und stärker ausdrückliche Vergleiche zwischen den Epochen anzustreben. Überdies sind die Schilderungen des Kroeschellschen Lehrbuchs erheblich knapper und oft nur skizzenhaft.

      Den ausdrücklichen Anspruch, die Geschichte der Gerichtsbarkeit lehrbuchhaft darzustellen, haben nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nur zwei Bücher erhoben. Im Erscheinungsjahr nur hauchdünn voneinander getrennt, erschienen 1954 eine „Geschichte der Gerichtsverfassung“ von Eduard Kern und 1953 die „Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500“ von Erich Döhring. [<<19]

      Kerns Darstellung ist ihrem Anspruch nach ein klassisches Kurzlehrbuch. Es geht nicht um Forschungsfragen oder Literaturdiskussion, sondern um die gedrängte Vermittlung historischen Sachwissens. Der Bogen ist weit gespannt von der germanischen Frühzeit bis zum Nationalsozialismus. Aber nicht nur der methodisch veraltete rein normengeschichtliche Zugriff auf die einheimische Rechtsgeschichte stört aus heutiger Sicht. Viel gewichtiger ist ein anderer Einwand. Kerns Lehrbuch gibt sich überdeutlich als Einführung in das geltende Recht aus, gewissermaßen als erster Teil seines zweiten Lehrbuchs zum geltenden Gerichtsverfassungsrecht. Deswegen stehen die neuere Zeit und die Moderne ganz im Mittelpunkt. Die ältere Rechtsgeschichte muss sich mit wenigen Seiten begnügen, und genau sie beruhen auch nicht auf eigenen Arbeiten des Verfassers, sondern auf den noch älteren klassischen Großlehrbüchern. Kern war kein Rechtshistoriker, und das merkt man seinem Buch an. Für die neuere Gerichtsverfassung bietet sein Werk freilich viel Stoff, an den sich anknüpfen lässt.

      Ein zweiter Gesichtspunkt mag nicht entscheidend sein, zeigt jedoch, wie sich der Zugriff auf die Geschichte in den vergangenen sechs Jahrzehnten geändert hat. Für Kern geht es schwerpunktmäßig um die Schilderung einer normativen Rechtslage. Gerichtsordnungen und Prozessgesetze bilden das Rückgrat des Buches. Die Praxis tritt dahinter zurück. Allgemeinhistoriker werfen genau dies der älteren von Juristen betriebenen Rechtsgeschichte gern vor. Der Blick auf die Normen soll den Zugriff auf die historische Wirklichkeit verstellen. Doch hier ist zu differenzieren. Die Existenz einer Norm, ihr Erlass, ihr Inhalt und auch ihre zeitgenössische Auslegung sind als solches genauso historische Tatsachen wie ein Mordfall, eine Folterung oder ein Gerichtsurteil. Je für sich handelt es sich um Gegenstände, die einer rechtshistorischen Erforschung bedürfen. Es darf nur nicht der Eindruck entstehen, die Kenntnis historischer Gesetze eröffne die Sicht auf die Rechtspraxis. Sein und Sollen bleiben auch in der Prozessrechtsgeschichte getrennt. Auf der anderen Seite sind übermäßige Vorbehalte von Rechtshistorikern gegen eine Beschäftigung mit der Geschichte der Rechtspraxis unbegründet. Es gibt kein methodisches Gebot, zunächst eine wie auch immer verstandene Rechtslage zu erforschen, bevor man sich der zeitgenössischen Praxis zuwenden darf. Hier unterscheiden sich schlichtweg persönliche Interessen und auch die jeweiligen Quellengrundlagen. Aber genau deswegen kann ein Lehrbuch wie das von Kern eine moderne Prozessrechtsgeschichte nicht ersetzen.

      Erich Döhring legte 1953 mit seiner „Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500“ ein ganz ungewöhnliches und eigenständiges Werk vor. Ob es sich um ein studentisches Lehrbuch oder eher um ein Lesebuch für gebildete Juristen handeln soll, bleibt etwas unklar. Im Zugriff jedenfalls brach Döhring mit vielen Eigentümlichkeiten der Lehrbuchliteratur. Das zeigt sich bereits an der Gliederung. Die überkommene Chronologie [<<20] mit ihren traditionellen Epochenbezeichnungen ist aufgelöst in mehrere Hauptteile, die u. a. verschiedene juristische Berufe wie Richter und Anwälte beleuchten. Und hier geht es Döhring auch nicht nur um die jeweilige Gesetzeslage, sondern zusätzlich um Fragen wie Ausbildung und Einkommen. Mit der weitgehenden Beschränkung auf die Neuzeit schließt sich das Buch anderen seinerzeitigen Darstellungen an, etwa der „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ von Franz Wieacker (erstmals 1952) oder der als Fach im Entstehen begriffenen „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“. Doch die Ausblendung der älteren Geschichte fordert bei Döhring ihren Preis. Denn wie lehrreich der Vergleich zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen Prozessrecht sein kann, vermag sein Buch nicht zu zeigen und will dies auch gar nicht. Außerdem haben sich nicht nur zahlreiche Sichtweisen im Laufe eines halben Jahrhunderts geändert. Vor allem hat sich unsere Kenntnis der neuzeitlichen Rechtspflege erheblich verbessert. Dennoch ist Döhrings Werk zu Unrecht in die zweite Reihe getreten. Es handelt sich um einen beherzten und originellen Zugriff, der auch heute noch zahlreiche Einzelheiten vermittelt, die in keinem gängigen Lehrbuch zu finden sind.

      Nur der Vollständigkeit halber sei ein weiteres Buch kurz erwähnt, das ein wenig aus dem Rahmen fällt. Es handelt sich um den bekannten und weit verbreiteten Katalog des Kriminalmuseums Rothenburg ob der Tauber mit dem sehr vielversprechenden Titel „Justiz in alter Zeit“. Doch geht es dort gerade nicht um eine Geschichte der Gerichtsbarkeit. Zahlreiche einzelne Beiträge stammen zwar aus der Feder von Rechtshistorikern. Der Schwerpunkt liegt aber auf der älteren Strafrechtsgeschichte mit Ausgriffen auf das frühneuzeitliche Policeyrecht. Die Zeit ab etwa 1800 fehlt vollständig. Im Vordergrund stehen die zahlreichen Abbildungen frühneuzeitlicher Gerichtsszenen, Exekutionen und Schandstrafen. Trotz des sehr günstigen Verkaufspreises wird das Werk wohl kaum als Lehrbuch genutzt.

      Rechtshistorische Lehrwerke zur Prozessrechtsgeschichte, zu Gericht und Verfahren sind auch im Ausland eher rar gesät. Wichtige Überblicke stammen von Raoul C. van Caenegem zur Rolle des Richters, aber auch zum Zivil- und Strafprozess. Aus Frankreich gibt es die umfangreiche Übersicht einer Autorengruppe um Jean-Pierre Royer sowie die Bücher von Benoît Garnot und Jean-Marie Carbasse (Lit. zu 1.3.1).

      1.3.2 Forschungsliteratur

      Im Gegensatz zur Lehrbuchliteratur ist die Spezialforschung zu wichtigen Bereichen der Prozessrechtsgeschichte in den letzten Jahrzehnten geradezu aufgeblüht. Diese Arbeiten betreffen zumeist einzelne Aspekte und sind nur selten epochenübergreifend angelegt. Die Literaturübersichten am Ende des Buches geben darüber Auskunft. Hier [<<21] genügen wenige Schlaglichter. In den 1950er und 1960er Jahren standen Untersuchungen zur mittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit im Vordergrund des Interesses. Begleitet durch wichtige Quelleneditionen haben Wilhelm Ebel und Adalbert Erler mit ihren Schülerkreisen den Lübecker Rat sowie den Ingelheimer Oberhof als mittelalterliche Gerichte erforscht. Sowohl die Gerichtsverfassung innerhalb einzelner Rechtskreise mit ihren Oberhofzügen als auch das jeweilige Prozessrecht sind seitdem gut bekannt. Einen sehr hilfreichen Überblick stellte 1981 Jürgen Weitzel zusammen, doch blieb die Forschung seitdem nicht stehen. Für die frühmittelalterliche Zeit legte Weitzel selbst mit einer umfassenden Arbeit zur dinggenossenschaftlichen Rechtsfindung 1985 ein monumentales Werk vor, das sowohl die Gerichtsverfassung als auch das Prozessrecht beleuchtete. Die seitdem intensiv ausgefochtenen Meinungsverschiedenheiten über das mittelalterliche Verständnis von Recht, Norm und Spielregel haben immer auch den Blick auf die Gerichte gelenkt. Daran lässt sich anknüpfen.

      Zeittypisch mit der allgemeineren Verlagerung des rechtshistorischen Forschungsschwerpunkts vom Mittelalter in die Neuzeit nahmen seit den 1960er und vor allem 1970er Jahren die Arbeiten zur frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit sprunghaft zu. Hier waren es vor allem die obersten Gerichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, denen sich viele Rechtshistoriker widmeten. Begleitet von einer umfassenden Erschließung des riesigen Aktenbestandes entstanden zunächst zahlreiche Untersuchungen zum Reichskammergericht. Zeitverzögert schloss sich die noch lange nicht abgeschlossene Inventarisierung der Reichshofratsakten an, die ihrerseits die Reichshofratsforschung bis heute beflügelt. Die einst als Schwäche verpönte Urteilsarmut der beiden Reichsgerichte und die bekannten Schwierigkeiten, Entscheidungen durchzusetzen, haben hier zu neuen Sichtweisen geführt. Möglicherweise ging es den Parteien gar nicht immer darum, ein Urteil zu erlangen. Vielleicht bot die gerichtsförmliche Austragung von Konflikten nur die Möglichkeit, sich leichter friedlich zu einigen. Jedenfalls verlangen solche Ansätze danach, auch in einer Geschichte der Gerichtsbarkeit die außergerichtliche Beilegung von Rechtsstreitigkeiten immer mit im Blick zu behalten. Seit etwa 2010 sind die Untersuchungen zur außer-, vor- oder nebengerichtlichen Streitbeilegung nahezu explosionsartig angestiegen. Beeinflusst von der heutigen Überlagerung der staatlichen Justiz durch Schiedsverfahren,

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