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Leben für Matthias auch wünschte, so wusste sie doch, dass er diese Reisen niemals antreten würde. Seine Welt würden die grauen Fabriken vor den Toren Freistadts sein, denn obwohl er erst elf Jahre alt war und noch kein Bart in seinem Gesicht spross, war er ein unabdingbarer Verdiener im Haushalt. Isolde stiegen Tränen in ihre hellblauen Augen. Es tut mir so leid.

      Am Ende ihrer Diskussion würde Josef ihrem Sohn erlauben einen kräftigen Schluck aus seinem Bierkrug zu nehmen, was zumindest den drängendsten Hunger stillte und die Sinne gegen die Kälte der Nacht abstumpfte. Es war inzwischen zu einem festen Abendritual für beide Streithähne geworden - genauso wie die persönliche Verabschiedung von Isolde, bevor diese das Haus für die Nacht verließ. Die allabendliche Verabschiedung von Matthias war Isoldes Weise um sich in Erinnerung zu rufen, warum sie ihren Körper für nur ein paar Reichsmark in den schmutzigsten Ecken Freistadts feilbot.

      „Matthias…“, seufzte sie verständnisvoll. „Du weißt doch ganz genau, dass du morgen Früh wieder pünktlich in der Fabrik sein musst. Außerdem kann ich doch sehen, dass dir schon die Augen zufallen.“ Liebevoll streichelte sie ihrem Sohn durch sein braunes, struppiges Haar.

      „Aber ich möchte wach bleiben und da sein, wenn du nach Hause kommst. Dann kann ich mir sicher sein, dass es dir auch gut geht.“

      „Du weißt doch ganz genau, dass du dir keine Sorgen machen musst“, beruhigte sie ihn. „Außerdem passe ich doch auf, wenn ich so spät noch rausgehe.“ Unweigerlich fasste sie unter ihren Rockbund. Seit dieser schrecklichen Nacht vor einem Monat versteckte Isolde dort eine kleine, aber todbringend scharfe Klinge. Diese sollte ihr im Notfall die Haut retten - oder zumindest ihr Leiden beenden.

      „Ist das so?“, bemerkte Josef verdrießlich. Sein Kommentar war leise, doch hörbar. Mit seinem Bierkrug in der Hand stand er auf verließ missmutig die Küche.

      Matthias blickte ihm verwundert hinterher und fragte seine Mutter: „Was ist denn mit Josef los?“

      „Keine Ahnung“, log Isolde und streichelte ihm weiter den Kopf. Sie wusste, dass auch Josef diese Nacht in Erinnerung geblieben war. Damals hatte sich der Herbst noch nicht angekündigt und der Sommer schenkte Freistadt die letzten lauen Nächte. Dies war die einzige angenehme Erinnerung, die Isolde mit diesem Tag verband. Denn im Morgengrauen war nicht einmal mehr sicher gewesen, ob sie überhaupt überleben würde. Alleine hatte sie sich durch die Gossen Freistadts nach Hause geschleppt. Am Ende ihrer qualvollen Reise lag sie in zerrissener Kleidung, blutend und nahe der Bewusstlosigkeit vor ihrer eigenen Haustür. Nur die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages gaben ihr die Kraft nach Josef zu rufen. Glücklicherweise wachte Matthias in jener Nacht nicht durch ihre Rufe auf, denn das hätte sie sich niemals verziehen.

      „Und jetzt ab ins Bett, du Zwerg!“, sagte sie mit einem gekünstelten Lächeln und gab ihrem Sohn einen zarten Ruck.

      „Aber ich wollte noch ein Schluck Bier von Josef!“, verlangte dieser und stemmte sich gegen ihre Hand.

      Er ist wirklich stark geworden, bemerkte sie glücklich und entgegnete: „Das muss heute leider ausfallen … aber dafür kannst du einen Kuss von deiner Mutter haben.“

      „Den kannst du dir sparen!“ Matthias grinste verschlagen und seine braunen Augen leuchteten sie an. Ihre Hand strich zärtlich über seine Wange. Er hatte die Augen seines Vaters, in denen sie sich verlieren konnte.

      „Alles okay bei dir?“, fragte Matthias unsicher.

      „Ja, bei mir ist alles okay. Und jetzt ab in Bett.“

      Matthias strich die Hand seiner Mutter beiseite und sprang von seinem Stuhl auf. Nun küsste er sie doch kurz auf die Wange und rannte schnell in sein Schlafzimmer.

      Ich liebe dich! Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Ohne ihm lange nachzublicken griff Isolde sich ihren verwaschenen Überwurf aus Schafwolle und schlang ihn sich um den Hals.

      „Du weißt, dass du das nicht tun musst, oder?“ Josef stand im Türrahmen seines Schlafzimmers und schaute sorgenschwer zu Isolde.

      „Doch, das muss ich“, berichtigte sie ihn gereizt. „Jeden Abend muss ich das tun - und das weißt du genau.“ Ihm musste genauso klar sein wie ihr, dass sie niemals eine Anstellung in einer der Fabriken erhalten würde. Nicht mit ihrer verkrüppelten Hand. Isolde war zwar schon immer von ansehnlicher Natur, doch waren seit ihrer Kindheit drei Finger ihrer linken Hand versteift. Und im Gegensatz zu den Freiern interessierten sich die Fabrikbesitzer nun einmal auch für ihre linke Hand.

      „Ich meine nur, dass dich das eines Tages umbringen wird“, versuchte Josef sie zu beschwichtigen. „Irgendein Verrückter wird dir die Kehle durchschneiden und die Stadtwache wird sich nicht einmal dafür umdrehen - wenn sie es nicht sogar selber tun, die Schweine … Wer kümmert sich dann um Matthias? Seinen Vater hat er bereits verloren.“

      Du! Wenn ich eines morgens nicht zurückkomme, wirst du dich um Matthias kümmern. Wortlos verließ sie die Küche und schmiss die Haustür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

      2

      Ich werde mich niemals an Städte gewöhnen, fluchte Ismail, als er das Stadttor Freistadts durchschritt. Es gibt in Städten einfach viel zu viele Leute - und die machen viel zu viel Krach. Hektisch strömten die Stadtbewohner in beide Richtungen an dem Waldläufer vorbei und rempelten ihn dabei immer wieder an. Eine besonders unfreundliche Albin trat ihm von hinten in die Hacken, quittierte seinen missbilligen Blick mit einem ausgestreckten Mittelfinger und zog fluchend an ihm vorbei. In dem Meer aus Alben, Zwergen und Menschen, war sie schon nach wenigen Schritten nicht mehr auszumachen.

      Scheinbar hatte er unabsichtlich genau den Schichtwechsel in den Fabriken vor der Stadt abgepasst. Er hatte auf seinen Reisen davon gehört. Angeblich fanden diese mehrfach pro Tag statt und sorgten für eine wahre Flut an Arbeitern, die zu beiden Seiten durch das Stadttor strömten. Die Sache mit der Flut kann ich auf jeden Fall bestätigen.

      Es war eine Besonderheit Freistadts, dass sich nur ein einziges Stadttor in der äußeren Stadtmauer befand. Ein architektonisches Nadelöhr, welches die bevölkerungsreichste Stadt in den Fünf Provinzen mit der Außenwelt verband. Ismail wunderte sich, wie alle diese Arbeiter in die Fabriken passen sollten. Als er Freistadt diesen Nachmittag von Norden her erreichte hatte, waren die tristen Fabrikgebäude bereits von Weitem zu sehen gewesen. Sie waren zweifellos riesig, doch fand er die Anzahl der Arbeitskräfte, die er gerade in diesem Moment sah, weitaus beeindruckender.

      Ihn überkam das ungute Gefühl, dass er innerhalb der Menge die Kontrolle über seinen Weg verloren hatte, wie in einem wilden Strom wurde er erfasst und mitgezogen. Genervt von den ständigen Rempeleien suchte er mehrfach Augenkontakt um sein Missfallen der jeweiligen Person mitzuteilen und hegte dabei die Hoffnung, dass nicht alle Bewohner Freistadts so abgehärtet waren wie die unfreundliche Albin - doch die Fabrikarbeiter nahmen ihn nicht einmal wahr. Der Fremde war ihnen schlichtweg egal. Sie wollten nach vollbrachten Tageswerk nur so schnell wie möglich nach Hause oder rechtzeitig zur nächsten Schicht an ihrem Arbeitsplatz sein. Obwohl der Waldläufer selbst noch nie in einer Fabrik gewesen war, hatte er schon so manche Geschichte über diese Orte gehört: Unmengen großer Maschinen sollen dort sauber in Reih und Glied nebeneinander stehen. Und an jeder sollen gleich mehrere Arbeiter schuften und denselben Handgriff fast einen halben Tag lang einfach immer wiederholen. Ismail verspürte nicht wirklich den Drang, den Gerüchten auf den Grund zu gehen. Der Waldläufer wollte einfach nur seine Geschäfte in der Stadt erledigen und dann schnellstmöglich wieder aus diesem Moloch verschwinden.

      Und doch hatten die Fabriken seiner Meinung nach auch ihre guten Seiten. Viele der Arbeiter hätten unter anderen Umständen und in anderen Provinzen des Königreichs ein schlimmeres Dasein gefristet. Er dachte dabei etwa an die Minen im Götterkamm, dem größten Gebirge im Land. Die harte Arbeit unter Tage mit all ihren Gefahren hatte schon viele Leben gekostet. So war es kein Wunder, dass der Westen - allen voran die Geteilte Stadt - vor allem von Zwergen besiedelt wurde. Mit ihrem kleinen, doch breiten Körperbau, der extremen Zähigkeit sowie ihrer legendären Dickköpfigkeit, schienen sie wie gemacht

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