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Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen. Kirsten Döbler
Читать онлайн.Название Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen
Год выпуска 0
isbn 9783847618799
Автор произведения Kirsten Döbler
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Kirsten Döbler
Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Kapitel I
1
Caro presste ihren Schädel in die flauschige Schafswolle der Yogamatte. Mit verschränkten Fingern umfasste sie den Hinterkopf und balancierte die gebeugten Beine nach oben, bis sie in gestreckter Haltung den Punkt des perfekten Gleichgewichts fand. Wie schmale, gerade gewachsene Spargelstangen schwebten ihre Gliedmaßen zwischen den Betondecken der Fabriketage.
Das Blut sackte ihr in den Kopf, während sie das Gellen und Dröhnen der Stadt wahrnahm, den metallischen Singsang der Stahlschienen, auf denen die S-Bahnen in den Freitagabend hineinfuhren. Von den Hauptverkehrsadern gesellten sich die Schallwellen ächzender Trucks hinzu und wurden hier und da von einer potenten Wechseltonhupe übertönt. Caro war abgelenkt. Doch nicht das Getöse der Stadt war schuld daran, dass sie ihre Yogaübungen unkonzentriert ausführte. Die Vorfreude auf den Abend war es, die sie in Gedanken immer wieder abschweifen ließ. Was hatte Ben für eine Überraschung auf Lager?
Verbissen richtete Caro ihre Aufmerksamkeit auf die Lockerung der Muskulatur und begann im Geiste noch einmal bei den Zehen. Sie wanderte die Waden hinab, doch schon als sie die Oberschenkel erreicht hatte, war sie in Gedanken erneut bei Ben. Was war es, das er ihr am Abend endlich erzählen wollte? Am Telefon hatte er so ein Geheimnis darum gemacht.
Caro kapitulierte und senkte die Beine kontrolliert zu Boden. Sie schaute auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten, bis Ben sie abholen würde, lange genug, um sich das zweite Auge ins Gesicht zu malen.
Ihr linkes Auge war ein wenig kleiner als das rechte, wenn auch nicht von Geburt an. Sie war durchaus mit zwei wohlgeformten Augenlidern zur Welt gekommen, doch um ihren siebten Geburtstag herum war ihrem Vater wieder einmal die Hand ausgerutscht, und sein Uhrenarmband aus Metall landete versehentlich unterhalb ihrer Braue, so dass sie wochenlang mit Augenklappe zur Schule gehen musste. Caros Sehkraft war nicht beeinträchtigt, aber die Haut am Oberlid verheilte ein wenig anders als erhofft, so dass ihre grünen Augen seither aus unterschiedlich geformten Lidern blickten.
Mit vierzehn Jahren hatte sie endlich Zeitungen austragen dürfen, und kaum hielt sie ihr erstes selbstverdientes Geld in Händen, machte sie einen Termin bei einer Kosmetikern, um von ihr zu lernen, wie das kleine Auge größer und das unverletzte kleiner wirkte.
Das Ergebnis veranlasste Caros Schwester Petra, ihr hübsches Gesicht zu einer Fratze zu verziehen und durch die Wohnung zu brüllen, Mama möge schnell kommen, Caro sei in den Farbtopf gefallen. Mama kam in Kittelschürze herbeigeeilt, warf nur einen kurzen Blick auf die Tochter, bevor sie den Kopf schüttelte:
»Was soll denn das für eine Kriegsbemalung sein?«
Das war das Stichwort gewesen. Längst hatte Caro gelernt, die Gemeinheiten der Mutter und Schwester zu erdulden. An jenem Tag jedoch war sie ihnen sogar dankbar für den ungewollten Hinweis auf die andere Seite der Medaille. »Kriegsbemalung!« Das Schminken hatte einen Sinn bekommen, eine zusätzliche Dimension. Plötzlich ging es nicht mehr darum, lediglich zwei gleich große Augen vorzutäuschen. Sie begriff, dass sie sich etwas viel Wertvolleres angeeignet hatte: ein Ritual zur Vorbereitung auf das tägliche Gefecht in ihrem Elternhaus. Von diesem Moment an betrachtete Caro das Schminken als unentbehrlichen und willkommenen Teil ihres Tagesablaufs. Um keinen Preis, selbst mit zwei vollkommen gleichgroßen Augen, hätte sie von nun an auf die Möglichkeit verzichtet, sich auf diese Weise gegen die Bosheiten der Welt zu rüsten.
Auch zwei Jahrzehnte später gehörte die Prozedur eines sorgfältigen Make-ups weiter zu Caros täglichen Beschäftigungen. Sie hatte es sogar zu einer gewissen Meisterschaft darin gebracht: Wer sie niemals ungeschminkt gesehen hatte, kam nicht auf die Idee, dass die Farben und Schatten um ihre Augen eine weit zurückliegende Verletzung verbargen.
Caro rollte die Yogamatte zusammen und schob sie an die Wand. Auf Socken ging sie ins Bad, wusch sich und wählte ein olivfarbenes Hemd und eine Cargohose im Woodland-Design aus. Um sich von Kopf bis Fuß betrachten zu können, stellte sie sich vor die Stirnwand ihrer Fabriketage, die fast vollständig unter der Fläche mehrerer goldgerahmter Spiegel vom Flohmarkt verschwand, die Caro wie ein Puzzle zusammengehängt hatte. Sie prüfte mit ernsten Augen ihr Spiegelbild, wie sie es immer zu tun pflegte, bevor sie das Haus verließ. Ihre zahllosen feuerfarbenen, sich kräuselnden Haarfäden hatte sie zu einem bauschigen Gebilde aufgetürmt.
»Meine Schwester balanciert rote Zuckerwatte auf dem Kopf!« Jahrelang hatte sie Petras schrille Stimme auf dem Schulhof ertragen müssen, doch schon lange entfaltete der Gedanke an diese Worte nicht mehr die damals beabsichtigte Wirkung. Im Gegenteil. Caro hatte gelernt, ihren roten Watteschopf gekonnt in Szene zu setzen.
Noch zehn Minuten, bis Ben auf den pfützenübersäten Hof hinter dem Fabrikgebäude fahren und zweimal hupen würde. Sie schaute aus den engsprossigen Industriefenstern hinunter auf den Hinterhof. Es hatte gar nicht viel geregnet in diesem Februar, aber der Untergrund war lehmig und hielt das Regenwasser fest.
Kein Vergleich allerdings zu den Wassermassen im Jahr zuvor, als es wochenlang vom Himmel geschüttet hatte. Schauer über Schauer hatten täglich neue Pfützen wachsen lassen, in denen sich die Welt spiegelte und Kopf stand. Es war viel wärmer gewesen in jenem Jahr. Beinahe meinte man, bereits den Frühling in der Stadt zu riechen. Caro hatte um dieselbe Uhrzeit vor ihrer Spiegelwand gestanden. Sie war mit ihren Freundinnen Steffi und Julia verabredet gewesen und schminkte sich an jenem Abend besonders sorgfältig, denn Julia hatte außer ihrem neuen Freund noch zwei seiner Kollegen zu dem Kneipenabend eingeladen. Genau ein Jahr war seit jenem Abend vergangen, als sie zu sechst in der Kneipe am Fischmarkt gesessen hatten, Ben, der sportliche, höfliche und gut aussehende Hüne ganz dicht neben ihr, so dicht, dass ihre Oberschenkel sich berührten, als er ihr überraschend ins Ohr flüsterte:
»Ich hoffe, du willst es nicht dem Zufall überlassen, wann wir uns wiedersehen.« Dabei hatte er gelächelt, einen Arm um Caro gelegt, mit seiner freien Hand ihre Finger an seinen Mund geführt und sie einige Sekunden lang an seine Lippen gedrückt. Nach dem angedeuteten Kuss hatte er eingehend ihre Finger betrachtet und die außergewöhnliche Glätte und Festigkeit ihrer Nägel bewundert. Caro war sich an jenem Abend nicht sicher gewesen, ob sie die Bemerkung als Kompliment auffassen oder lediglich dem routinierten Blick des Arztes zuschreiben sollte.
In den folgenden Wochen trafen sie sich fast täglich und überwiegend im Freien zu ausgedehnten Spaziergängen, denen Caro zugestimmt hatte; obwohl sie sich lieber in einem Café mit ihrem neuen Bekannten unterhalten hätte. Sie nahm ihre Kamera mit, um unterwegs ein paar Pfützenbilder schießen zu können. Ben fuhr sie in den Volkspark, und sie wunderte sich, dass sie noch nie dort gewesen