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      Ralf Geisenhanslüke

      Chefredakteur, Neue Osnabrücker Zeitung

       Einleitung

       Wer kam, wer ging? Geschichte Deutschlands als Aus- und Einwanderungsland

      Von Burkhard Ewert und Franziska Kückmann

       Zehntausende Menschen auf der Flucht erreichten im Sommer 2015 die Bundesrepublik. Ein Blick auf die vergangenen Jahrhunderte zeigt: Deutschland hat eine Tradition als Aus- und Einwanderungsland. Immer wieder verließen Menschen ihre deutsche Heimat, um anderswo ein neues Leben zu beginnen. Andere kamen in der Hoffnung, hier eine Perspektive für die Zukunft zu finden. Die Gründe waren unterschiedlich: wirtschaftliche Not, die Furcht um Leib und Leben, die Suche nach Verwirklichung. Eine Übersicht, wer kam und wer ging.

       Mittelalter/Frühe Neuzeit

      Schon in früheren Jahrhunderten gab es immer wieder Menschen aus dem Gebiet des heutigen Deutschlands, die ins Ausland gingen, etwa weil sie sich dort bessere Lebensbedingungen erhofften. Ab dem 12. bis zum frühen 14. Jahrhundert zog es Deutsche in den Osten, zum Beispiel ins Baltikum, nach Ungarn oder Moldawien. Missionare wagten sich für die Verbreitung des christlichen Glaubens in die Tiefen Afrikas, Asiens oder Australiens vor. Auf Einladung der russischen Zarin Katharina die Große gingen viele Deutsche im 18. Jahrhundert nach Russland. Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hinein zog es gerade viele Männer aus Nordwestdeutschland als Wanderarbeiter in die Niederlande: Hollandgänger wurden sie genannt.

       USA-Emigration

      Bis 1820 kamen etwa 150.000 Deutsche in die USA. Dann stieg die Zahl rasant an. Gründe dafür waren die stetig wachsende Bevölkerung, häufige Missernten und die daraus resultierenden Hungersnöte hierzulande. Zwischen 1820 und 1920 wanderten 5,5 Millionen Deutsche in die USA aus. Allein 1882 kamen 250.000 Deutsche. Sie versprachen sich in Nordamerika bessere Perspektiven und einen sicheren Lebensunterhalt. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts starteten die meisten Auswanderer ihre oft gefährliche Überfahrt ab Bremerhaven. Der Statistik zufolge haben heute knapp 50 Millionen US-Amerikaner deutsche Wurzeln. Sie sind demnach die zweitgrößte ethnische Gruppe nach den Hispanics.

       Jüdische Flucht

      525.000 Juden lebten 1933 in Deutschland. In den ersten beiden Jahren der Nazi-Herrschaft verließen 60.000 Juden ihre Heimat. Dann ebbte die Auswanderungswelle zunächst ab. Nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 änderte sich das: Juden waren fortan Bürger minderen Rechts. Mehr als 25.000 verließen das Land. Nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 folgte eine weitere Auswanderungswelle. Dieses Mal flohen 40.000 Juden. 1939 waren es noch einmal 78.000. Bis 1945 gelang mehr als 250.000 Juden die Flucht. Die Bedingungen für die Ausreise waren oft schwierig. Viele Länder weigerten sich, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Hinzu kam, dass die Nazis es Juden 1941 verboten, das Land zu verlassen.

       Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge

      Schätzungen von Historikern zufolge waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 etwa zwölf bis 14 Millionen Menschen von Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedlung und erzwungener Auswanderung aus den sogenannten Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reichs betroffen. Unmittelbar nach Kriegsende gab es zunächst vor allem wilde Vertreibungen. Zudem irrten auch unzählige Landverschickte und zuvor verschleppte Zwangsarbeiter durch Deutschland. Ab 1946, infolge der Potsdamer Konferenz der Alliierten, setzte der Versuch der geordneten Umsiedlung ein. Doch auch dabei kam es oft zu Gewalt, Lagerinhaftierungen und Zwangsarbeit. Die bekanntesten Regionen, aus denen die Menschen nach 1945 vertrieben wurden, waren Ost- und Westpreußen, Schlesien, Pommern, das Baltikum sowie die Sudeten- und Wolgagebiete.

       Gastarbeiter

      In den 1950er-Jahren kam Deutschland wirtschaftlich langsam wieder auf die Beine. Es begann, Anwerbeverträge zur Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte zu schließen. Den Auftakt bildeten die Vereinbarungen mit Italien im Jahr 1955. Es folgten Verträge mit Spanien und Griechenland (beide 1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte kamen auf diesem Weg bis 1973 nach Deutschland; elf Millionen kehrten wieder zurück. Die Arbeitsverträge waren in der Regel auf ein bis drei Jahre befristet. Die ausländischen Arbeitskräfte waren überwiegend in un- oder angelernten Bereichen tätig.

       Die Suche nach Sinn

      Die großen Wellen der Auswanderung dominieren die Wahrnehmung der Emigration. Während der Nazi-Herrschaft, davor in die USA, im Mittelalter Richtung Nordost- und Südeuropa. Bis in die neueste Zeit gab und gibt es aber auch immer wieder Menschen, die sich in kleinerem Rahmen auf den Weg gemacht haben, etwa einer Überzeugung oder der Liebe wegen. Zahlenmäßig sind sie kaum zu erfassen. Hippies gehören dazu, die auf der Suche nach sich selbst zum Yoga-Meister nach Südostasien zogen. Auch Kommunisten, die ihr Glück im Ostblock suchten, oder verfolgte Wiedertäufer wie die Mennoniten, die Enklaven in Nord- und Südamerika schufen. Und ebenso jene, die heute in der globalisierten Welt im Ausland ihre große Liebe gefunden haben.

       Aussiedler

      Ab 1989 stieg die Zahl der Aussiedler aus Osteuropa in der Bundesrepublik an. Zwischen 1950 und 1992 kamen 2,8 Millionen, davon 1,4 Millionen aus Polen. Allein zwischen 1993 und 2001 kamen dann knapp 1,4 Millionen sogenannte Spätaussiedler nach Deutschland, davon mehr als 1,3 Millionen aus der ehemaligen Sowjetunion. Ihre historischen Wurzeln lagen in der östlichen Siedlungswanderung aus dem deutschen Sprachraum während vergangener Jahrhunderte, die 1763 mit dem Anwerbemanifest der russischen Zarin Katharina die Große begann. Die Zuwanderung war deshalb eine Art „Rückwanderung“ nach vielen Generationen, weshalb diese Menschen auch Russlanddeutsche genannt werden.

       Asylbewerber in den 1990ern

      Bis Ende der 1980er-Jahre stammten zwei Drittel der Asylbewerber in Deutschland aus Staaten der sogenannten Dritten Welt. Wenig später sah das anders aus: 1993 stammten 72 Prozent der Asylanträge vor allem aus Südosteuropa. Gründe waren Krisen wie die Jugoslawienkriege von 1991 bis 1999. Die Zahl der Asylanträge erreichte 1992 ihren Höchstwert von fast 440.000. Untergebracht wurden die Flüchtlinge vor allem in Wohnheimen, Containern oder Zelten. Parallel nahm die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland zu. Die teils tödlichen Gewalttaten – darunter in Hoyerswerda (1991), Rostock, Mölln (beide 1992) und Solingen (1993) – häuften sich und lösten in weiten Teilen der Bevölkerung Entsetzen aus.

       Fach- und Arbeitskräfte

      Schon jetzt fehlen in Deutschland viele Fachkräfte – und aufgrund der demografischen Entwicklung wird sich dieser Trend noch verschärfen. Die Wirtschaft setzt deshalb zum einen gezielt auf die Zuwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte, zum anderen auf die Unterstützung durch billige Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor. Zwei Drittel der Zuwanderer kommen laut Bundesregierung aus EU-Staaten. Seit Mai 2011 gilt in Deutschland volle Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Bürger der zehn im Jahr 2004 zur EU beigetretenen Länder Ost- und Südeuropas, darunter Estland, Lettland, Polen oder Ungarn. Anfang 2014 fielen die Zuzugsbeschränkungen für Menschen aus Bulgarien und Rumänien. Nach beiden Stichtagen blieb die befürchtete Zuwanderung ins deutsche Sozialsystem aus.

       Neue Flüchtlinge

      Seit 2014 häufen sich die Asylanträge in Deutschland wieder. Von 2013 auf 2014 stieg die Zahl der Anträge um 60 Prozent auf 202.834. Im Jahr 2015 rechnet die Bundesregierung mit bis zu einer Million Asylbewerbern. Grund für die große Zahl sind viele ungelöste Konflikte, allen voran der seit vier Jahren wütende Krieg in Syrien. Unsicherheit und Instabilität nehmen in vielen Teilen der Welt zu. Auch aus Afghanistan, Eritrea und den Balkanstaaten kamen zuletzt viele

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