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wirklich hatten zugeordnet werden können, wurden nun erst auf kanonische Weise lokalisiert: Eine neue Exegese der alten Schriften identifizierte - mit welcher Berechtigung auch immer - Mathura und Vrindaban als die Schauplätze seines Götterlebens, so dass der bisher frei über Nordindien diffundierende Mythos eine konkrete Örtlichkeit erhielt, was nichts weiter bedeutete, als dass er zum Ziel von Wallfahrten und zum Anlass von Tempelbauten werden konnte. Chaitanya Mahaprabu war es auch, der die Kaliyuga-Lehre neu interpretierte. Es mochte wohl sein, dass die Kaliyuga-Ära mit Krishnas Tod im Jahre 3102 vor der Zeitrechnung begonnen hatte - dass aber in dieser Epoche der Kontakt zum Göttlichen ganz verloren gegangen sei, war für Chaitanya Mahaprabu nur bedingt richtig. Seine frohe Botschaft war vielmehr, dass es durch das Skandieren der heiligen Mantren und das Singen der Hare-Krishna-Chanten auch in der Nacht des Kaliyuga möglich sei, Anteil am Göttlichen zu gewinnen. Wo die Moslems ihre Religion im Heiligen Krieg mit Feuer und Schwert verbreiteten, wo sich die Buddhisten religiös verwirklichten, in dem sie der Welt entsagten, knüpften die Krishna-Anhänger nunmehr ein neues Band zur Gottheit durch das Singen heiliger Chanten.

      Diese gesamtindische Erneuerungsbewegung, die Mathura und Vrindaban in den Rang von Krishna-Städten erhob und die Krishna-Verehrung im ganzen Land intensivierte, muss aber unterschieden werden von dem, was im Westen als „Hare Krishna-Bewegung“ bekannt geworden ist, einer straff geleiteten Missionsbewegung, die eine bestimmte Variante der Krishna-Religiosität in der ganzen Welt verbreitet. Sie selbst bezeichnet sich als „International Society for Krishna Consciousness“ (ISKCon) und beansprucht, als eine neuartige monotheistische Religion, die Lücke auszufüllen, die durch den Zusammenbruch des Christentums und den Sieg des promiskuitiven Liberalismus im Westen aufgetreten ist. Ihr Schöpfer war der Bengale Swami Prabhupada (1896-1977), der sich als geistlicher Führer erst im Alter von 69 Jahren von Indien aus nach Amerika aufmachte, um dort mit minimalen Mitteln die Hare Krishna-Bewegung aufzubauen. Bekanntermaßen fand diese Lehre innerhalb der orientierungslosen westlichen Gesellschaften tatsächlich eine sehr positive Resonanz. Die Hare-Krishna-Chanten schafften es bald bis in Popsongs und Rockopern und bildeten in zahllosen westlichen Ashrams die Grundlage einer strengen vegetarischen Lebensführung, die viele Aussteiger nach der Beliebigkeit der Hippiekultur enthusiastisch begrüßten. In über 100 Ländern ist die Hare-Krishna-Gesellschaft heute aktiv, und der Krishna-Balaram-Tempel von Vrindaban ist ihr weltweites Zentrum.

      Dieser Tempel befand sich am westlichen Ortsende von Vrindaban, und er trug seinen Namen nach Krishnas mythischem Bruder Balaram, der hier neben Krishna besondere Verehrung erfuhr. Als ich den Tempel am frühen Nachmittag erreichte, wurde ich sofort als Ausländer erkannt und von einem englisch sprechenden Hare-Krishna-Jünger freundlich begrüßt. Er überreichte mir einige Informationsschriften, erklärte mir, wie ich zu den Sehenswürdigkeiten des Tempels käme und wies mich besonders auf ein Museum hin, das auf dem rückwärtigen Teil des Geländes ausführlich über das Leben von Swami Prabhupada informierte.

      Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass es sich bei dem Krishna-Balaram-Tempel um keinen typisch indischen Verehrungsort handelte. Obwohl er mit seinen Marmorböden, seiner Marmortreppe und den ziselierten Marmorfassaden auf den ersten Blick an einen Jainatempel erinnerte, war er so sauber und blank geputzt, wie ich es in Indien noch niemals gesehen hatte. Auch die Quote nichtindischer Besucher war im Krishna-Balaram-Tempel höher als anderswo - ich schätzte, dass fast ein Viertel der Besucher Nichtinder waren, die man aber als bloße Touristen falsch gekennzeichnet hätte, weil sie wahrscheinlich dauerhaft in Vrindaban lebten. Am Eingang der Haupthalle erwartete den Besucher eine mit Blumen und Devotionalien reich geschmückte Skulpturengruppe, die die Hauptakteure der Hare Krishna-Religiosität in einem einzigen Werk präsentierte - in der Mitte Krishna mit dem charakteristisch dunklen Gesicht, daneben sein Bruder Balaram und natürlich Radha, Krishnas Geliebte und Gefährtin. In der für den westlichen Menschen befremdlichen Nähe zur Gottheit war dieser üppig ausstaffierten Göttergruppe ein menschlicher Appendix am unteren Rand beigeordnet: Rechts befand sich eine kleine Skulptur des Reformators Chaitanya Mahaprabus, der hier als Heiland des Ostens und als wiedergeborener Krishna verehrt wurde, und auf der andere Seite war die Gestalt Swami Prabhupadas zu erkennen.

      Ich schlenderte eine Zeitlang durch die Räumlichkeiten des Tempels und musterte die Details der blitzblanken Statuen, die in allen Räumen als Altäre und Verehrungsorte ausgestellt waren. Sie erschienen so blitzblank und sauber, so ganz und gar patinalos und antiseptisch, dass mir darunter fast ihr religiöser Anmutungsgehalt zu leiden schien. Radha mit ihrer Porzellanhaut und ihrer lockeren Art, Krishna die Hand auf die Schulter zu legen, wirkte wie eine religiöse Barbiepuppe, womit ich weder etwas gegen Barbiepuppen, noch etwas gegen die Krishna-Religion gesagt haben sondern nur die Grenzen aufzeigen möchte, die einem westlichen Betrachter beim Verständnis östlicher Ästhetik gezogen sind. Krishna, von den in den klassischen Texten immer als „dem Blauen“ die Rede ist, war rabenschwarz, ein regelrechter Mohr, der auf der Flöte blies, auf einem Bein stand oder fesch seinen Helm trug – er glich mehr einer Kirmesfigur als jenem Gott, der ja immerhin nicht nur einer unter 300 Millionen des indischen Pantheons war, sondern der hier als der Einzige und Entscheidende, als der alles Umfassende in Szene gesetzt werden sollte. So kritisch ich den Islam und viele seiner Verhaltensvorschriften gegenüber Andersgläubigen betrachtete, so sehr bewunderte ich in diesem Augenblick die Weisheit seines Bilderverbotes und fragte mich, ob der Verzicht auf die Darstellung des Undarstellbaren nicht besser war als eine hemmungslose Ausdrucksfreude, die bei all ihrer Kunstfertigkeit nicht immer die Grenzen zum Kitsch beachtete.

      Mit mir selber uneinig, verließ ich den Krishna-Balaram-Tempel, wobei ich von dem gleichen jungen Mann, der mich begrüßt hatte, freundlich wieder verabschiedet wurde. Ich erhielt zwei Einladungen zu Darshans, die in den nächsten Tagen stattfinden würden und einige Adressen, bei denen ich mich intensiver über die Hare-Krishna-Bewegung informieren konnte.

      Am Keshi Ghat war der Anblick des Flusses am späten Nachmittag womöglich noch berückender als am Morgen. Alle Farben besaßen mehr Tiefe, die Konturen traten stärker hervor, die Luft war milder, der gesamte Anblick kam mit hundertmal authentischer vor als die grellen Figuren des Krishna Balaram-Tempels, wenngleich die Schönheit des Flusses etwas Unwahrhaftiges hatte, denn sie täuschte über seine Vergiftung hinweg.

      Ich setzte mich wieder auf das Dach einer der Podeste am Keshi Ghat und kam neben einen sehr schlanken jungen Mann im gelben Sanyasingewand zu sitzen. Erst als ich neben ihm saß, erkannte ich, dass er kein Inder sondern ein Europäer sein musste. Er hatte sehr kurz geschorenes Haar, helle Haut und ein glattes Gesicht mit großen runden Augen, die mich freundlich ansahen, als er mich mit einem Kopfnicken grüßte.

       Einige Minuten saßen wir wortlos nebeneinander und blickten über den Fluss. Die gesamte Landschaft war flach, jenseits der Yamuna erstreckte sich das Gopiland, eine weite durchgrünte Ebene mit Feldern, Weiden und kleinen Wäldern - durch den unerschütterlichen Glauben daran geadelt, dass hier in uralten Zeiten ein junger Gott über diese Erde gelaufen sei.

      Schließlich kamen wir ins Gespräch und stellten uns vor. Der Name meines Gesprächspartners war Matic, er stammte aus Slowenien und befand sich seit zwei Jahren auf Pilgerreise in Indien. Er sagte es ohne Prätention, als handelte es sich um das Natürlichste von der Welt und sprach mit einem so runden und warmen Timbre, als sei die Wahrhaftigkeit ein Bestandteil seiner Stimme. Immer wenn ich solche Menschen treffe, die wirklich losgelöst von den Wurzeln ihrer Herkunft eine Reise ins Unbekannte antreten, ohne zu wissen, wohin sie diese Reise führen wird, verfalle ich in eine kuriose Ehrfurcht und schäme mich zugleich der engen Grenzen, die meiner eigenen Welt gezogen sind. An den Quellen des Ganges hatte ich Karol getroffen, einen Polen, der zum ewigen Leid seiner Eltern vom Katholizismus zum Hinduismus konvertiert war und den Rest seiner Tage im Hochgebirge meditieren wollte. Mit einer alterslosen Französin hatte ich zwei Tage in Rischikesch verbracht und vergeblich zu verstehen versucht, warum sie den Rest ihres Lebens dem Bakti-Yoga weihen wollte. So unterschiedlich die Menschen auch waren, die ich auf diese Weise getroffen hatte – Indien hatte für sie eine derartige Kraft entwickelt, dass sie sich unter vollem existenziellen Risiko dazu entschlossen hatten, in der Spiritualität des Subkontinentes eine neue Heimat zu suchen.

      Darf ich fragen, wohin deine Pilgerreise führt? fragte ich.

      Es

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