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Das Geheimnis der schwarzen Schatulle. Hanna Holthausen
Читать онлайн.Название Das Geheimnis der schwarzen Schatulle
Год выпуска 0
isbn 9783738007930
Автор произведения Hanna Holthausen
Издательство Bookwire
Tag x
Eine Weile war das Schreiben zu gefährlich. Wir hatten eine andere Blockälteste, und die war scharf wie ein Wachhund. Ich musste das Buch in seinem Versteck lassen. Und wenn sie die Stockbetten durchwühlte, wurde das Buch heimlich von einer Frau an die nächste weitergereicht. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war dabei sehr groß.
Die vierte Woche in diesem Lager ist zu Ende. Rubina, eine Barackengenossin hat mir einen Kerzenstumpen und Streichhölzer zugesteckt, damit ich schreiben kann. „Schreib alles auf, Mädchen, damit die Welt erfährt, was hier passiert“, flüsterte sie. Viele meiner Leidensgenossinnen scheinen zu wissen, dass ich Tagebuch führe. Keine hat mich bisher verraten. Ich bin müde, aber ich will schreiben, will, dass dieses Buch überlebt. Notfalls auch Masha und mich.
Die Arbeit auf den Feldern ist hart. Wir müssen beinahe noch mitten in der Nacht die Baracken verlassen zum Zählappell. Dann ziehen wir zur Arbeit aus dem Lager. Mit Musikkapelle. Wer seine Holzschuhe im Schlamm verliert, muss mit nackten Füßen weiterlaufen. Es ist bitterkalt und einige Frauen haben Erfrierungen an den Füßen. Wer nicht mehr laufen kann, wird auf einer Art Bahre abtransportiert. Ich frage nicht, wohin. Zusammen mit den anderen aus der Baracke müssen wir mit nichts außer unseren Händen einen Acker von Steinen befreien. Am Morgen ist der nasse Lehm gefroren und steinhart. Meine Fingerkuppen sind blutverkrustet und reißen jeden Tag bei der Arbeit wieder auf. Wenn nur Masha durchhält. Zwei ihrer kleinen Finger sind bereits erfroren. Ich weiß es, denn sie sind schwarz und ihre Hand schmerzt. Der Schmerz meiner Finger ist nicht halb so groß wie der, wenn ich meine kleine Schwester anschaue. Sie hat seit Mirkos Tod kein Wort mehr gesprochen.
Beim abendlichen Zählappell haben wir schon drei Mitbewohnerinnen verloren. Manche fallen vor Erschöpfung hin und rappeln sich wieder auf. Wenn aber die härtesten Peitschenhiebe ihnen nicht mehr auf die Beine helfen, kommen zwei Lagerarbeiter und transportieren sie auf der Bahre ab. Niemand fragt. Aber jeder weiß.
Tag x
Februar. Eiseskälte. Masha hat Fieber. Seit drei Tagen erbricht sie ständig. Ich werde sie heute nicht mit auf die Felder nehmen können. Aber was wird passieren, wenn sie beim Zählappell nicht dabei ist? Ich habe schreckliche Angst.
Tag x
Masha ist fort. Sie haben sie vorgestern abtransportiert. Auf einer Bahre. Ich wollte sie nicht fortlassen, doch diese Frau mit dem breiten Mund und den kleinen Augen schlug mir mit der Peitsche ins Gesicht.
Ich kann nicht schreiben. Ich weiß, dass meine Schwester tot ist. Der Schmerz zerreißt mich.
Tag x
Gestern war Massendesinfektion. Die von Ungeziefer wimmelnden Kleider mussten wir ablegen und unter den Blicken der SS-Leute nackt zu tausenden in die Sauna gehen. Wieder wurden wir geschoren. Auf dem Kopf, unter den Armen und zwischen den Beinen. Frauen verteilten mit Lappen, die an langen Stielen befestigt waren, eine blaue Flüssigkeit auf unseren Körpern. Das Rinnsal, das aus den Duschen lief, benetzte anschließend unsere klebrigen Körper nur mit ein paar Tropfen Wasser. Weder ausreichend Wasser noch Seife oder Handtücher gab es. Nackt mussten wir in die Kälte hinaus, weil noch keine „neuen“ Kleider vorhanden waren.
Dann hieß es „Zählappell“. Immer noch nackt mussten wir uns in Fünferreihen aufstellen. Wir zitterten vor Kälte. Dann kam der Regen. Eisregen. Zwei Stunden später lagen unzählige Frauen auf der Erde, einige erfroren. Die Nacht verbrachten wir ohne Kleider auf blankem Holz. Auch unsere Decken und Stofffetzen waren zur Desinfektion gegeben worden. Am nächsten Morgen beim Zählappell waren wir noch weniger als am Abend, und auch die Stunden des Appells forderten weitere Todesopfer. Am Nachmittag kam eine große Ladung Kleidung, die man uns auf den Barackenboden warf. Wir kämpften verzweifelt um die Kleider von Toten, um nicht selbst zu sterben. Kleine Masha.
Ich fühle nichts mehr. Bin leer. Hohl.
Tag x
Ich lebe nicht mehr. Ich stehe auf, arbeite, schlucke die graue Brühe und die Brotkanten herunter, lasse mich von Läusen und Flöhen auffressen, friere, schlafe. Um mich herum wird gestorben. Das Denken habe ich abgestellt. Leben ist etwas anderes. Das hier ist nicht Leben.
Tag x
Gibt es Gott? Wenn es ihn gäbe, wäre ich bei Mirko und Masha. Mutter, wo bist du?
Tag x
Es ist Frühling. April. Jetzt ist auch Rubina fort. Sie hat meine Hand festgehalten, als die Träger kamen. „Schreib, Mädchen“, hat sie mühsam geflüstert. „Wach wieder auf. Du musst wieder schreiben. Für mich. Für Masha. Für uns alle.“
Ja, ich schreibe. Ich schreibe von dem Gestank, der hier Tag und Nacht die Luft verpestet. Nicht der Blütenduft von Obstbäumen. Der Gestank von brennendem Menschenfleisch. Ich schreibe von den Menschenmassen, die hier täglich ankommen. Ahnungslos. Und irgendwohin verschwinden. Ich schreibe von den lebenden Toten, blicklose ausgemergelte Körper, deren Zeit längst abgelaufen ist. Und ich schreibe von Rapportführer Gustav Langhagen, dessen Gesicht sich mir eingebrannt hat bis in alle Ewigkeit. Als verantwortlicher SS-Führer für die Disziplin im Lager und für die Zählung der Häftlinge hat er alle Macht. Er hat gelächelt, als er mir vom Tod meiner Schwester berichtete. „Sie hat uns lange genug mit ihrer kläglichen Anwesenheit belästigt“, sagte er. „Aber es war interessant zu beobachten, wie lange sich der kleine Wurm gequält hat.“ Ich habe geschrien und bekam dafür ausgiebig seine Peitsche zu spüren.
Tag x
So viele Neuzugänge. Viele davon sterben schon bald. Sie kommen aus Ländern mit wärmerem Klima, werden krank und überleben manchmal keine Woche. Auch, wenn die Kälte langsam weicht, stecken sie sich mit Durchfallerkrankungen oder Typhus an. Oder sie sterben im Schock. Wer nicht schnell genug lernt zu organisieren, hat keine Chance. Wer auf Mitgefühl hofft, sowieso nicht. Organisieren, tauschen, handeln und immer auf der Hut sein, denn jede könnte eine Spionin sein – so sehen die Möglichkeiten zu überleben aus.
Tag x
Die Mundharmonika ist vielleicht das Tor zu einem kleinen Stückchen Glück. Eine der Frauen auf dem Feld fiel neben mir plötzlich um. Für einen Augenblick war ich unbeobachtet und durchwühlte ihre Taschen. Schnell steckte ich die kleine Mundharmonika in mein Oberteil und machte mich wieder an die Arbeit, als auch schon die ersten Befehle in unsere Richtung hallten. Die Frau war tot. Da halfen auch Peitschenschläge und Fußtritte nicht mehr. Ich arbeitete weiter, stellte mich blind und taub. Habe hier auf dem Feld selbst genug Schläge, Fußtritte und Hundebisse bezogen. Schließlich kamen die Männer mit der Bahre.
Tag x
Ich muss zu tief geschlafen haben. Ein Moment der Unachtsamkeit. Die Mundharmonika ist weg.
3
Tag x
Der Sommer ist hier so grausam wie der Winter. Seit drei Tagen bin ich zu Gleisbauarbeiten eingeteilt. Wir müssen einen Graben ausheben. Nach tagelanger Hitze und Trockenheit