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Ratten als Haustiere, dass sie so gut gefüttert waren?

      Die kleine Frau nutzte Meraviglias Unaufmerksamkeit und schlich wortlos die Gasse hinunter, den Blick auf den Boden gerichtet, auf der Suche nach weiteren Lumpen.

      Komische Frau, dachte Meraviglia, als ihr etwas einfiel.

      „Mütterchen!“, rief sie der Frau hinterher und beeilte sich sie einzuholen. „Sagt, Mütterchen, gibt es hier ein Gasthaus oder eine Herberge?“

      Die Frau sah nicht auf, hielt aber einen Moment inne.

      „Mütterchen…“, wisperte es leise in dem schwarzen Nichts der Kapuze. Wortlos deutete sie mit einem Lumpen in der Hand die Gasse hinunter auf ein altes Haus. Die Piratin erhaschte einen Blick auf die Hand der Frau. Sie war ganz weiß und übersät mit roten Flecken, die sich schuppten.

      Meraviglia tat die kleine Frau furchtbar Leid, doch ihr kam ein wundervoller Gedanke.

      „Ich lad Euch ein!“, rief sie begeistert und zum ersten Mal schaute die Frau aus ihrer Kapuze heraus. Auch ihr Gesicht war übersät mit roten Flecken, doch in der Mitte leuchteten zwei große Augen, so blau wie die See nach einem Sturm.

      Das ist kein Mütterchen! Die Frau konnte nicht älter als sie selbst sein!

      „Alessi will nicht. Alessi darf nicht. Alessi muss brav sein. Sonst kommen die Ratten. Sie kommen und holen Alessi.“

      „Nichts da! Ich habe Euch umgerannt, ich lade Euch jetzt auf einen Cidre ein. Ein Pirat zahlt schließlich seine Schuld.“

      Bevor die Frau wusste wie ihr geschah, zog sie Meraviglia hinter sich her, die Gasse hinunter. Sie würde ihre neue Freundin nicht einfach so gehen lassen, selbst wenn sie eine Lumpen-Frau war. Ein Pirat konnte bei Bekanntschaften eben nicht wählerisch sein.

      Auf See kam es oft vor, dass man drei Monate lang keinem einzigen Schiff begegnete. Immer die gleichen Leute! Irgendwann wurde man verrückt. Deshalb ließ man auch kein Schiff, dessen Fracht man erbeutet hatte, wieder gehen, ohne mit jedem einzelnen Matrosen der Besatzung zu plaudern. Und wegen dieser Piratengepflogenheit musste die kleine, buckelige Frau namens Alessi jetzt leiden.

      Das Gasthaus sah ganz anders aus, als all die anderen, aus denen Meraviglia hinaus gejagt worden war. Die großen Fenster aus buntem Glas waren so schmutzig, dass man nicht hinein sehen konnte. Von der hölzernen Tür blätterte Farbe ab, die vor langer Zeit einmal grün gewesen sein mochte. Und über dem Eingang hing schief ein bemaltes Schild.

      „Zum tansenden Frosch“, las Meraviglia. Darunter war eine Kröte mit einem überdimensionalen Kopf, die einen Stock mit Blumen in der Hand hielt, aufgemalt. Sie wunderte sich über die Schreibweise, aber wer nicht einmal Fenster putzte, brauchte sich auch nicht um Rechtschreibung zu kümmern.

      „Sieht doch vielversprechend aus!“, meinte Meraviglia. Die bucklige Frau wusste noch immer nicht, was gerade geschah. Plötzliche Anflüge von Wohltätigkeit ihr gegenüber waren selten, sodass nur eine Erklärung blieb: sie wurde gerade von einer völlig Verrückten in ein dunkles Gasthaus entführt.

      Meraviglia achtete nicht auf den stummen Protest. Sie öffnete die Tür und betrat mit ihrer Begleiterin das kleine Gasthaus.

      „Scher dich aus meinem Wirtshaus, Lumpenpack!“, donnerte ihnen eine mächtige Frauenstimme entgegen. Die Piratin und die Lumpensammlerin blieben erstarrt im Eingang stehen.

      „Wen nennst du hier Lumpenpack, du geizige Ziege. Verfluchen werde ich dich!“, antwortete ihr eine krächzende Stimme, nicht minder überzeugend.

      Der Raum war nur durch zwei Kerzen erhellt, sodass Meraviglia nicht genau sehen konnte, wie groß er war oder wie viele Personen sich in ihren dunklen Ecken versteckten. Doch die zwei Frauen, die an einem Tisch neben dem Tresen stritten, füllten den Raum mit ihrem Geschrei genug aus, um diesen als voll bezeichnen zu können.

      Die eine, nicht besonders groß, aber mächtig in der Breite, das leuchtend blonde Haar zu einem Knoten gebannt, bedrohte gerade mit einer Schopfkelle eine in einen alten, geflickten Mantel gehüllten Frau, die versuchte sich zu ihrer vollen Größe aufzubauen, was ihr nicht besonders gut gelang.

      „Du! Mich! Verfluchen?“, lies die Wirtin vernehmen. „Dass ich nicht lache! Du könntest nicht mal jemanden verfluchen, wenn der Sensenmann persönlich dich am Schlafittchen hätte. Und ich werde ihm die Arbeit gerne abnehmen, wenn du nicht sofort…“

      Die Frau legte eine plötzliche Pause ein.

      „Was stinkt hier denn auf einmal so?“

      Hurtig versteckte sich die Bucklige hinter Meraviglia, als der Blick der schreienden Furie zum Eingang glitt, auf der Suche nach der Quelle des Übels.

      „Hey, ihr! Keine Bettler. Das ist hier kein Armenhaus. Und du“, hierbei wandte sie sich wieder der zerlumpten Greisin zu. „Ich zähle jetzt bis drei und bei drei ist das die Anzahl der Zähne, die du noch haben wirst, wenn du nicht…“

      „Wie sind keine Bettler“, unterbrach Meraviglia die Wirtin und zog die flüchtende Lumpen-Frau zurück.

      „Ich bin Meraviglia Barbanero und das hier ist… ähm… Alessi, so war doch der Name?“

      Die Angesprochene krümmte sich auf einmal so sehr, dass sie zu einem Ball geworden wäre, wären die Füße nicht gewesen.

      „Das ist ‘ne Lumpen-Marie“, rief die Wirtin ungeduldig. „Und mir ist egal, wie du heißt. Für Habenichtse gibt’s hier Nichtse.“

      Meraviglia kramte aus einem Beutel, den sie unter ihrer Weste versteckte, eine Münze hervor (Nanu? Waren das nicht mal mehr gewesen?) und ließ sie für einen Moment in dem Licht der Kerzen glänzen.

      „Wir hätten gerne zwei Apfelcidre und für mich ein Bett, wenn noch eines frei ist.“

      Ein Biss in das weiche Metall genügte und schon wurden sie an dem Tisch, der eben noch ein Kriegsschauplatz gewesen war und zwei Krüge mit Cidre landeten vor ihnen.

      Die Wirtin, Potata mit Namen, konnte zwar den Gedanken nicht ertragen eine stinkende Lumpen-Marie bewirten zu müssen, aber sie war auch Geschäftsfrau und alles, was Geld brachte, durfte bleiben. Die Wirtschaft war so schlecht besucht, dass sie bei Gästen nicht wählerisch sein konnte.

      Denn das Gasthaus litt an schrecklicher Verwahrlosung. Von der Decke hingen Spinnweben. Der Boden klebte bei jedem Schritt. Und durch die undichten Wände pfiff der Wind.

      Man müsste mal richtig Reine machen, dachte Potata beim Anblick der zerfledderten Lumpen-Marie.

      Unentschlossen, was sie mit dem Getränk machen sollte, drehte die Lumpen-Marie, den metallenen Krug vor sich her und beobachtete wie der Inhalt im Licht golden leuchtete.

      „Man kann es auch trinken!“, fauchte die Wirtin die Frau an, die sofort begann, an dem Getränk zu nippen.

      Dann wandte sie sich wieder der alten Bettlerin zu: „Und du verschwindest jetzt. Du kannst woanders Hellsehen.“

      Mit einem entschlossenen Schritt drängte die Wirtin den ungebetenen Gast Richtung Tür. Die alte Frau protestierte zwar, sah aber ein, dass sie sich ihre warme Mahlzeit woanders verdienen musste.

      „Hellsehen? Du kannst Hellsehen?“, fragte Meraviglia interessiert. Sofort schlüpfte die alte Frau an der Wirtin vorbei und setzte sich neben den spendablen Neuankömmling.

      „Ja, junges Fräulein. Ich kann dir alles über deine Zukunft verraten, was du nur wissen möchtest.“

      Mit ihren knochigen Fingern ergriff sie Meraviglias Hand und begann diese unter geheimnistuerischem Murmeln zu betrachten. Doch die Wirtin, die nicht so leicht aufgeben wollte, zog sie am Kragen.

      „Und wenn du Tote aus ihren Gräbern beschwören könntest…! Wer kein Geld hat, fliegt raus.“

      Die alte Wahrsagerin klammerte sich an Meraviglias Arm und zerrte sie dabei fast von der schmalen Bank.

      „Ich zahle für sie“,

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