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ausgeblendet wird. Insbesondere wird missachtet, was Weizsäcker, wie selbstverständlich, zum wesentlichen Gesichtspunkt seiner „Krankheitsidee“ erklärt: Diese nämlich ergebe sich „aus dem Zusammenleben eines Menschen mit anderen Menschen (vor, mit oder nach ihm)“. (7)

      Dass dem so ist, wird anhand von funktionellen Krankheitserscheinungen, wie der Hysterie, deutlich. Bei deren Behandlung nämlich versagt die naturwissenschaftliche Medizin. Werden deren Gesetzmäßigkeiten aber nach den Wahrheitskriterien der Naturwissenschaft für unwirksam erklärt, so erweist sich diese Verurteilung zur Unwirksamkeit als vergeblich: Ihre Art zu wirken nimmt in diesem Fall Symptomgestalt an und verlangt nach einem Begriff von Wirkung, wie ihn die Physiologie nicht aufbringt.

      Die Krise der Medizin ist also durch von langer Hand vorbereitete Gewohnheit heraufbeschworen worden, die menschliche Lebensordnung zunächst in der mathematischen Sprache der Physiker zu verleugnen und sodann in der Alltagssprache von Medizinern der Missachtung preiszugeben. Wenn nun eine heilungsbedürftige Menschheit der Sprache naturwissenschaftlich orientierter Ärzte Allgemeingültigkeit zubilligt und die Sprache des medizinischen Alltags in den Rang einer Weltsprache erhebt, verschleiert deren Unwahrhaftigkeit zunehmend den Blick auf die historische Wirklichkeit. Sich in der Bereitschaft zu üben, das Unwirkliche an die Stelle des Wirklichen zu setzen, entwickelt sich dann zu einer Erkrankung, womit naturwissenschaftlich verschulte Mediziner die Weltbevölkerung infizieren.

      Zwar erwartet dann jedermann von dem Gerede, das man allerorten über Fragen des Schutzes vor der Gefährdung durch Krankheitserreger hört, dass es die Menschen verbindet. Aber alle Welt leidet doch selbst darunter, dass dem nicht so ist, oder lässt „die Anderen“ darunter leiden. Denn in Wahrheit wirkt systematische Ablenkung von den Zielen der Liebe isolierend, und somit ist sie die gefährlichste aller Infektionsquellen.

      Um die komplexe Wirkung der menschlichen Lebensordnung zu illustrieren, bietet sich ein Vergleich mit der Abbildung der Gravitation bzw. des physikalischen Kausalgesetzes durch Meereswellen an. Denn in der Biographik geht es darum, mittels weniger Grundsätze das ozeanische anmutende Verhältnis von Eltern und Kindern zu begreifen, welches durch die Fruchtbarkeit der Liebe von Mann und Frau hervorgebracht wird. Und wenn von Krankheit die Rede sein soll, verlangt der biographische Ansatz, den folgenden Gesichtspunkt zu berücksichtigen:

      Die Kranken befinden sich im Entwicklungsstatus von Kindern, die bemüht sind, ihre Eltern in selbstloser Weise spielerisch zu trösten, als wäre es ihre Aufgabe, deren Vergangenheit zu korrigieren, und als ließe sich die Arbeit, ihr Dasein zu rechtfertigen, bereits durch naive Gutwilligkeit erledigen. Ihr gesetzmäßiges Scheitern an der vermeintlichen Aufgabe, mit ihrem Liebesspiel den Lebensernst auszuräumen, erscheint, solange es so harmlos bleibt, wie Meeresleuchten oder Meeresrauschen.

      Statt für dies rätselhafte Geschehen eine neue Terminologie einzuführen, habe ich auf Wörter zurückgegriffen, die bereits ohne bewusste Bezugnahme auf biographische Gesetzmäßigkeiten gebräuchlich waren. Zu untersuchen ist die Gesetzmäßigkeit des Verhältnisses von „Relationalität“ und „Stellvertretungsordnung“. Diese beiden für die Biographik charakteristischen Begriffe beinhalten die Erfahrung, dass es bei der Beschreibung von Krankheitsprozessen mathematische Prinzipien der hermeneutischen Reflexion zu formulieren gilt. Das entspricht der Herausforderung, eine für die biographischen Befunde spezifische Arithmetik und Geometrie zu entwickeln.

      Viktor von Weizsäckers Leistung bestand darin, Hypothesen über „Wirkung“ aufzustellen, welche seine Lehre vom Geltungsbereich der Physik und der Physiologie emanzipierten. Die Kalamität, dass ihm selbst die logische und empirische Berechtigung dazu vorläufig noch rätselhaft geblieben war, verführte ihn zur Parteinahme für eine Begriffsbildung, die ihn von der Pflicht zu entbinden schien, ihre Legitimität mathematisch auszuweisen. Tatsächlich opferte er damit die Verbindung zur wissenschaftlichen Tradition.

      Darum kam es einer Rückkehr in die Arme der Alma Mater gleich, das biographische Forschungsvorhaben durchzuführen, das Weizsäcker initiiert hatte. Ob sie kleinlaut oder triumphal genannt werden soll, sei dahingestellt. Weizsäckers Anregung geradlinig zu folgen, wäre jedenfalls auf eine esoterische Engführungen hinausgelaufen. Sein Ansatz lässt sich nur würdigen, wenn aufgezeigt werden kann, dass die biographische Heuristik durch eine hermeneutische Empirie und Theorie untermauert wird, welche der Mathematik konstitutive Bedeutung zuweist. Das heißt:

      Auf Umwegen bestätigt sich Kants Auffassung, dass auch in einer Lehre von der Natur des Menschen „nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.“ (8)

      Auf dieser Basis werde ich begründen, dass Weizsäcker (in vorerst visionärer, tatsächlich aber bahnbrechender Weise abweichend von der akademischen Psychoanalyse) genau jenes hermeneutische Nadelöhr charakterisiert hat, dessen Enge den Weg zur Entwicklung der ärztlichen Heilkunde seit weit über hundert Jahren zu versperren schien. Zugleich werde ich belegen, warum es an der Zeit ist, sich den Herausforderungen seines Werkes zu stellen, statt ihnen mit seinen eigenen Einwänden auszuweichen, sie seien mit den Prinzipien gediegener Wissenschaft – scheinbar – nicht vereinbar.

      Dem erforderlichen Neuanfang steht meines Erachtens nichts anderes im Wege als Furcht vor den politischen Folgen wirklicher, undogmatischer Aufklärung über die Rechtsordnung der Menschlichkeit. (9) Das wird sich freilich konkret erst dann abzeichnen, wenn der Philosophie das Recht entzogen ist, in der Aufklärung Hausrecht zu beanspruchen, und den Naturwissenschaften das Recht, sich als legitimierte Nachfolger von Theologie und Philosophie auszugeben.

      Diese Aufklärung muss sich als Wahrnehmung ärztlicher Verantwortung zu erkennen geben. Das das wird geschehen, wenn die ärztliche Heilkunde dazu herangereift ist, der Würdigung der Leiber zu dienen, und genug Selbstkritik entwickelt hat, um den Boden ihres materialistischen Dogmatismus zu verlassen und dem missbräuchlichen Einsatz zur Verwertung von Körpern zu entsagen.

      Bei dem Versuch, die hermeneutische Medizin durch „Einführung des Subjekts“ demgemäß zu revolutionieren, sind Viktor von Weizsäcker Fehler unterlaufen, die sein Projekt mit selbstge-machten Hindernissen belastet haben. Das neue Fundament, das er zu errichten suchte, krankte an der „Bewunderung“, die er für Sigmund Freuds Werk hegte, nämlich daran, dass er – im Einklang mit Freuds Lehre vom „Unbewussten“ – von Folgendem ausging:

      1. Der Logik attestierte er, sie führe die ärztliche Hermeneutik systematisch in die Irre.

      2. Der Mathematik erkannte er den Wert ab, bei der Erforschung des biographischen Begriffs von Wirkung als Hilfsmittel zu dienen.

      3. In der Untersuchung der Hilfsverben (der sog. „pathischen Kategorien“) überging er deren Hauptproblem: die habituell irrige und symptomatische Zuordnung von Verantwortung. Beim Umgang mit Krankheit sind die Fragen „Warum gerade jetzt?“, „Warum gerade hier?“ und „Warum gerade so?“ unmittelbar von zentralem diagnostischem und therapeutischem Gewicht.

      Unter derartigen Voraussetzungen war es Weizsäcker verwehrt, auf empirischem Wege den Beweis für die Gültigkeit seiner beiden – nachweislich – zutreffenden Hypothesen über den Begriff von Wirkung anzutreten. (10) Zu erwähnen, dass er dies auf allein logischem Wege nicht vermochte, war überflüssig. Denn es handelt sich ja um ein Problem der Heilkunde, und dessen Lösung verlangt in erster Linie logischen Umgang mit Erfahrungen.

      Dass Weizsäckers Aufbruch, der ihn von der Psychoanalyse zur Biographik bringen sollte, angesichts seines Todes mit einem Fiasko endete, resultierte aus seinem Vorurteil, der psychoanalytische Pazifismus gegenüber neurotischen Erkrankungen verpflichte ihn zur Feindschaft gegen physikalisch ausgebildete Waffentechniker.

      Tatsächlich verpflichtet die Wahrnehmung ärztlicher Verantwortung zur Aufklärung über die Grenze, welche den Einsatz naturwissenschaftlich (physiologisch) erforschbarer Instrumentarien und den Einsatz biographisch entwickelter Heilmethoden voneinander trennt bzw. miteinander verbindet. Diese Behauptung zu erhärten, ist mein Anliegen.

      Meine Frau Monika hat mir dazu verholfen, das Forschungsgebiet zu betreten, das sich anla¨sslich therapeutischer Thematisierung genealogischer Zusammenha¨nge

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